Gegen Abend, nachdem alle Formalitäten erledigt waren, rief sie zu Hause an. Sie konnte sich ausmalen, wie ungeduldig ihre Familie bereits um das Telefon herumschlich und auf ihren Anruf wartete: Volker, ihr Mann und die beiden Töchter Steffi und Lissy. So nahm dann auch Volker gleich nach dem ersten Klingelton den Hörer ab.
"Hallo Tina, bist du's, mein Schatz?"
"Ja, ich bin's."
"Wie geht’s dir denn?” wollte er wissen. “Bist du gut angekommen? Und gefällt dir die Klinik? Glaubst du, daß du es dort vier Wochen lang aushalten kannst?”
Tina lachte. "Ich werde es müssen", sagte sie. "Und ja, ich bin gut angekommen. Die Klinik gefällt mir gut, sie ist viel schöner, als ich sie mir vorgestellt habe."
Nun hörte sie auch die Mädchen im Hintergrund. "Mama?" - "Mama!" riefen sie gleichzeitig ins Telefon. Tina stellte sich vor, wie sie darum stritten, wer den Hörer halten durfte.
"Hast du ein schönes Zimmer, Mami?", fragte Lissy, die Kleine.
"Und einen Fernseher?", wollte Steffi wissen.
Tina lächelte. "Ja, ich habe beides. Es ist sehr schön hier. Die Klinik gleicht fast einem Schloß, ich werde euch eine Postkarte schicken."
"Adressier sie an mich."
"Nein, an mich. Du weißt doch, daß ich Postkarten sammele."
Volker fuhr dazwischen. "Jetzt laßt mich mal wieder mit der Mama reden."
Maulend räumten sie das Feld. "Tschüß, Mama!" - "Schreib mir mal, Mami!"
"Seid brav, wenn die Oma da ist", ermahnte sie sie noch schnell, "damit sie sich nicht zu sehr aufregen muß."
Dann war Volker wieder am Apparat. "Weiß du schon, wie es mit dir weitergehen wird?", fragte er, "und welche Anwendungen sie für dich vorgesehen haben?"
"Morgen stehen zuerst mal diverse Untersuchungen an: Belastungs-EKG, Echocardiographie... Das Übliche, du weißt schon. Später werde ich dann sicher auch mein Anwendungsheft bekommen."
"Mal sehen, was sie in den nächsten Tagen mit dir vorhaben. Ich werde versuchen, mich so oft wie möglich bei dir zu melden. Gib mir mal deine Durchwahlnummer."
Sie las die Telefonnummer von ihrem Merkblatt ab.
"Solltest du mich mal nicht erreichen, dann mußt du es eben so lange versuchen, bis es klappt. Innerhalb der Klinik ist das Handy verboten, aber wenn ich draußen unterwegs bin, werde ich es natürlich mitnehmen."
Volker lachte. "Aber vergiß nicht wieder, es einzuschalten, sonst nützt es dir nicht viel."
"Ja ja!" Sie wurde nicht gern an ihre Schandtaten erinnert.
"Gut, dann werden wir jetzt Schluß machen. Ich melde mich morgen nachmittag bei dir, dann wirst du sicher schon Näheres wissen." Und dann fügte er zärtlich hinzu: "Schlaf gut in der neuen Umgebung, mein Liebling. Gute Nacht!"
"Gute Nacht, Bärchen."
Trotz des aufregenden und abwechslungsreichen Tages fühlte sie sich nun doch ein wenig traurig und allein, als sie den Hörer auflegte.
Es wurde keine besonders gute Nacht, denn sie schlief denkbar schlecht. Sie hatte so viel Neues zu verarbeiten, daß es ihr schwerfiel, einfach abzuschalten und zur Ruhe zu kommen. Sie durchlebte noch einmal die Fahrt im Zug, die Ankunft in der Klinik, das Mittagessen im Speisesaal und die Aufnahmeuntersuchung bei Dr. Wintrup. Außerdem fehlte ihr ihr kleines Dinkelkissen, daß sie zu Hause in den Nacken legen oder in den Arm nehmen konnte.
Gleich am nächsten Morgen hatte sie sich einem ausführlichen Test-Programm zu unterziehen. Besonderes Augenmerk legte man natürlich auf das Herz, denn schließlich war sie hier, weil es in den vergangenen Wochen eine ziemlich schwere Attacke zu überstehen gehabt hatte. Es begann im Labor, dann ging es über Röntgen, EKG und Ultraschall zur Echocardiographie. Und auf einmal fühlte sie sich doch wieder ganz als Patient, der von Ärzten, Schwestern und Therapeuten abhängig war. Selbst der Marmorboden in der Halle, die Teppiche auf den Fluren und das hübsch eingerichtete Zimmer konnten nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß sie sich eben doch in einer Klinik befand. Natürlich waren all diese Untersuchungen notwendig, das wußte sie, schließlich hatte sie keinen Wellness-Aufenthalt in einem Luxus-Hotel im Preisausschreiben gewonnen, sondern sollte und wollte so schnell wie möglich wieder ganz gesund werden.
Auf dem Weg zur Echocardiographie landete sie zunächst in der Massage-Abteilung, wo ihr ein hübscher braungebrannter Physiotherapeut zwinkernd erklärte, daß er zwar gern ihr Herz klopfen hören würde, daß er aber für ganz andere Dinge zuständig sei. Ein bißchen atemlos vom Treppauf und Treppab kam sie schließlich vor den richtigen Untersuchungsräumen an, - und stellte bestürzt fest, daß sie nicht die einzige war, die man herbestellt hatte. Die Stuhlreihe entlang der Wand war bereits bis auf den letzten Platz besetzt, deshalb ließ sie sich gegenüber auf den Treppenstufen nieder, die in das nächste Stockwerk führten. Bald schon merkte sie jedoch, daß das keine besonders gute Idee gewesen war, denn nun saß sie buchstäblich auf dem Präsentierteller, und die Augen der Wartenden starrten ihr, aus Ermangelung eines interessanteren Objekts, neugierig entgegen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und wieder gegangen, doch da das unmöglich war, tat sie das einzige, was sie in dieser Situation tun konnte: Sie starrte zurück. Dabei fiel ihr auf, daß alle Patienten Jogginganzüge trugen, und daß es sie in den unterschiedlichsten Ausführungen und Variationen gab. Da sah man abgetragene und ladenneue, eintönige und farbenfrohe, langweilige und ausgefallene... Sie waren die Uniform der Patienten. Ihr eigener war lila mit Moosgrün, Volker hatte ihn ihr eine Woche vor der Abreise extra für die Reha gekauft, und die Mädchen hatten ihm bei der Auswahl geholfen. Und ja, sie fand, sie hatten einen guten Geschmack bewiesen.
Außerdem stellte sie fest, daß sie einige der Wartenden bereits kannte. Die Ballerina zum Beispiel, sie trug einen rosa Anzug aus seidig glänzendem Stoff. Dann Onkel Willi, der in einem uralten dunkelgrünen Exemplar steckte, das schon, im wahrsten Sinne des Wortes, so manches Jahr auf dem Buckel zu haben schien. Und auch der Mann war da, den sie am Tag zuvor vor dem Dienstzimmer des Arztes getroffen hatte. Sein Anzug war dunkelblau, mit einem großen V aus Weiß und Hellblau auf der Brust. Da er am intensivsten zu ihr herüberschaute, versuchte sie, ihn einfach zu ignorieren und konzentrierte sich auf die Ballerina neben ihm. Nur manchmal wechselte sie zu Onkel Willi auf seiner anderen Seite hinüber, indem sie ihren Blick einfach über ihn hinwegspringen ließ. Im Grunde hätte sie nicht einmal sagen können, was sie gegen ihn hatte. Wahrscheinlich war es das leicht ironische Lächeln, das er fortwährend zur Schau trug, das ihr nicht gefiel.
Und dann kam Uschi. “Hi, Leute!”, rief sie schon von Weitem. “Wie gehts denn voran? Auf wieviel Stunden Wartezeit muß ich mich denn einstellen?”
Ein Gemurmel war die Antwort, denn Genaues wußte niemand. Mit einem Plumps ließ sie sich neben Tina auf die Treppenstufe fallen und lachte sie an.
“Du bist auch neu hier, stimmt's? Auch gestern erst angekommen?" Und noch während Tina nickte, plapperte sie bereits weiter: “Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie das hier schon mit mir gemacht haben.”
Sie ließ ihrem Gegenüber keine Zeit, zu fragen, warum, sondern gab unaufgefordert gleich die Antwort darauf: “Ich habe nämlich von Geburt an einen Herzfehler. Ventrikelseptumdefekt, - wird dir wahrscheinlich nichts sagen, oder? Hat mit der Scheidewand in der Herzkammer zu tun."
Als ein Klingelzeichen ertönte, war der Mann mit dem V-Anzug an der Reihe. Er stand auf und verschwand durch die Tür, auf der geschrieben stand: "Beim Klingelzeichen der Nächste bitte". Tina fragte sich, warum er nicht allen anderen den Vortritt ließ, da er doch so gern wartete und Leute beobachtete. Hier hätte er reichlich Gelegenheit dazu gehabt.
Das Mädchen Uschi plapperte weiter drauflos. Sie mochte noch keine zwanzig