„Natürlich“, meinte Franzine und dachte bei sich, dass dieser Junge ein sonderbares Auftreten an den Tag legte.
Eine Woche später erreichte Ferry völlig erschöpft die Provinz Foggia in Süditalien. Hartnäckig sein Ziel verfolgend: das Krankenhaus Casa Sollievo della Sofferenza in San Giovanni Rotondo.
***
Sechs Wochen verstrichen ohne ein Lebenszeichen von Ferry. Franzine war am Ende aller ihrer Kraft. Nicht mal eine Karte hatte er geschickt. Sie verbrachte ihre Tage und Nächte mit kaum auszuhaltenden Sorgen um ihn, gab sich selbst die Schuld an seinem Verschwinden. Sie verzog sich in ihr Zimmer und war kaum ansprechbar. Freya litt mit ihrer Tochter, jeder Versuch ihr das Leben zu erleichtern schlug fehl. Fast bis zu einem Skelett abgemagert, lag Franzine in ihrem Bett und blickte leer an die Wand. Wenn Annelie nicht gewesen wäre und ihr dies nicht mitgeteilt hätte, sie hätte nicht die geringste Ahnung gehabt was mit ihm los war. Ferry, seine Nähe vermisste sie, die Ungewissheit schien sie fast zu töten. Die Angst um ihn lähmte ihr fast den Atem. Freya beschloss den Arzt zu rufen als Franzine schon tagelang das Essen verweigerte. Sie telefonierte bei einer Nachbarin, die ebenfalls besorgt den Kopf schüttelte. Doktor Mayer kam nach zwanzig Minuten und besah sich Franzine mit bedrückter Miene.
„Sie muss an den Tropf“, meinte er ungehalten, „ notfalls auch künstlich ernährt werden, du willst doch wohl nicht in die Psychiatrie. Ich werde Ihnen einen Rettungswagen schicken, ein paar Tage im Krankenhaus werden sie wieder aufpäppeln.“ Freya schlug die Hände vors Gesicht, das der Kummer bei ihrer Tochter solche Ausmaße angenommen hat, war ihr unerklärlich. Doktor Mayer gab ihr noch eine Bekräftigungsspritze und verabschiedete sich mit einem festen Handschlag. Franzine lag stumm da, ihre müden Augen waren nun geschlossen.
In der Zwischenzeit traf Ferry in seinem Heimatort ein. Zerlumpt, erschöpft und abgemagert steuerte er mit seinem Gefährt auf das Haus zu, indem seine Eltern lebten. Sein Gesicht war eingefallen und zerschunden, die Hände schwarz vom Motoröl, seine Hosen zerrissen, die dunkle Jacke hing an ihm herunter. Die Satteltasche schien leer zu sein, seine Schlafmatratze troff vor Schmutz. Kraftlos stellte er das Motorrad im Hof ab, langsam schritt er die Stufen zur Wohnung hinauf. Senta, die hocherfreut die Ankunft ihres Sohnes vom Fenster beobachtet hatte, lief ihm freudestrahlend entgegen. Gerade als sie die Eingangstür öffnete, kam Ferry schwankend über die Schwelle.
„ Sie haben mich nicht durchgelassen, sie haben mich nicht durchgelassen….“, rief er mit geschwächter Stimme und ließ sich kraftlos auf das kalkweiß gestrichene Bett in der Küche fallen.
(1969)
Franzine war inzwischen aufgestanden und stellte sich zum Fenster. Wie so oft blickte sie in den Wald, die leicht schwankenden Baumwipfel vermittelten ihr ein beruhigendes Gefühl. Dorothea hatte ihre Beine elegant übereinander geschlagen, legte sie etwas schief und saß wie eine richtige Italienerin auf der Bettbank. Franzine schwieg einen Moment um ihre Gedanken zu ordnen. Obwohl sie sich an jedes einzelne Detail entsann, fühlte sie sich schwach, die erste Hürde ihrer Beziehung mit Ferry hatte sie tapfer überstanden.
„Als er zurückkam war ich im Krankenhaus, ich konnte vor Schwäche kaum noch stehen, ich verweigerte jede Nahrung, ich trank nur noch ein paar Schlucke Tee pro Tag, nicht, dass ich es gewollt hätte, meine Speiseröhre war wie zugeklebt, ich konnte praktisch nicht schlucken.“ Langsam entfernte sich Franzine wieder vom Fenster und nahm neben Dorothea Platz.
„Ich kann dich nur bewundern Franzine“, meinte Dorothea und strich ihren blauen Kostümrock glatt, der unverkennbar, wie die dazupassende Jacke von Chanel stammte. „ Ich glaube kaum, das es sehr viele Frauen von deiner Sorte gibt, du wärst beinahe gestorben, aus lauter Liebe zu ihm, du fühlst jede Emotion doppelter als andere Menschen es vermögen, es kann Stärke versetzen, doch es kann auch vernichten.“
„Du hast recht Dorothea, es zerreißt mich innerlich jedes Mal wenn ich stark zu fühlen beginne, aber diese Erfahrung damals möchte ich trotzdem nicht missen, sie hat mich nur stärker gemacht.“
„Warum hat er dir nichts erzählt von dem was er vorhatte?“
„Er fürchtete, dass ich ihn zurückhalten würde, so wie seine Familie, außer Senta die ihm für die Reise ihr letztes Geld zusteckte, nicht weil sie darauf hoffte, dass sie durch diesen Pater geheilt werde, nein, sie gab es ihm aus abgöttischer Liebe zu ihm, nie schlug sie auch nur einen Wunsch von ihm ab, die beiden hatten ein besonderes Verhältnis zueinander.“
„Männer die eine zu gute Verbindung zu ihren Müttern haben, sind keine Männer….oh verzeih, ich hab jetzt nicht überlegt was ich sagte, du warst jung und verliebt…“, Dorothea blickte verlegen zu Boden.
„Schon gut Dorothea, du sprichst nur die Wahrheit. Jedenfalls blieb ich zwei Wochen im Krankenhaus, hing an Infusionen und manche Ärzte fragten mich über alles Mögliche aus. Was Organisches konnten sie nicht finden, ich hatte schon Angst dass sie mich mit dem „grünen Heinrich“ abholen kommen und mich in die Gummizelle stecken würden“, Franzine lachte, auch Dorothea lachte und die beiden Schwestern saßen beieinander, als wären sie all die Jahre nie getrennt gewesen. Bernadette spielte noch im Hof mit Pucki, es war schon fast Mittag vorbei und Franzine meinte, dass es Zeit wäre Bernadette zu holen und sie ihrer Tante vorzustellen. Im Treppenhaus traf sie Edna Edler die gerade einen alten, verschlissenen Teppich ausschüttelte. Staub wirbelte herum und Franzine rief nach Bernadette, die sogleich zur Stelle war.
„Sie können auch baden, unten im Keller gleich um die Ecke rechts, die weiße Tür, Sie brauchen aber einen Schlüssel dazu. Ich habe einen, ich borge ihn Ihnen gerne zum nachmachen“, meinte sie hervortuend während sie den Teppich wie wild ausschüttelte.
„Danke Frau Edler, ich wusste nicht, dass es hier ein Badezimmer gibt.“ Franzine hustete, der Staub trat in ihre Lungen und Bernadette lief die Treppe herauf.
„Na ja, Badezimmer ist zu viel gesagt“, meinte Edna, grinste und wollte schon in ihre Wohnung gehen als Dorothea in der Tür erschien. Den Mund weit offen, betrachtete Edna die elegante Frau die freundlich zu ihr rüberblickte und grüßte. Die Schwestern blickten sich an und lachten ungeniert. Edna Edler verschwand in ihrer Wohnung, Bernadette war unterdessen in die Wohnung gerannt. Ihre Finger waren rot von der Kälte, ihr Gesicht überhitzt, die Rennerei mit Pucki schien ihr nichts ausgemacht zu haben.
„Komm bitte her Bernadette, ich möchte dir eine sehr liebe Tante von dir vorstellen. Das ist meine Schwester, Tante Dorothea.“ Neugierig kam sie näher und reichte der von ihr schon vorhin begegneten Dame die Hand, setzte zum Knicks an und sagte: „Guten Tag, Tante Dorothea“, während sie gleich darauf wieder an Dorotheas super hohen Schuhen hinunterblicken musste.
„Wenn du groß bist, wirst du auch solch hohen Schuhe tragen“, meinte Dorothea und drückte das Mädchen zärtlich an sich. Franzine unterdrückte die Tränen der Rührung, servierte das Geschirr ab und setzte sich danach wieder hin.
„ So“, rief Dorothea, „es wird Zeit das wir ins Restaurant kommen, ich sterbe vor Hunger, du bestimmt auch, nicht wahr Bernadette, Franzine du natürlich auch“, sie lachten und Bernadette hüpfte herum, sie freute sich schrecklich auf dieses Erlebnis, auswärts essen zu gehen, bedeutete Wohlstand.
„Krieg ich auch Schlagsahne?? Bitte, bitte…..“, bettelte sie und Dorothea meinte, so viel sie wolle, bis ihr schlecht wird, auch ein großes Stück Torte dazu. Bernadette umarmte die neue Tante, küsste sie auf die Wange während sie wieder auf die hohen Schuhe an Dorotheas schlanken Füßen blickte.
Sie zogen sich ihre Jacken an, Franzine blieb in ihrem weiß-schwarzen Pepitakleid, das ihr Ignazia überlassen hatte, die Taille eng mit einem Lackgürtel zusammengeschnürt. Am Auto angekommen öffnete Dorothea den Kofferraum und beförderte eine große, rote glänzende Tüte zu Tage, sorgfältig mit purpurroten Taftband zugebunden, überreichte sie es Bernadette, die ein lautes, erstauntes Einatmungsgeräusch von sich hab und es freudig entgegennahm.
„Nicht alles auf einmal aufessen, versprichst du mir das?“ Dorothea blickte sie mit gespielter ernster Miene an.
„Mama,