Sodom und Camorra. Uta Bahlo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uta Bahlo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742748621
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machte den Kopf frei und sie hatte Zeit zum Nachdenken. Sie hoffte, dass Werner nicht rückfällig werden würde und überlegte, ob sie ihn bei Doktor Hagen verpetzen sollte.

      In diesem Interessenskonflikt entschied sie, erstmal abzuwarten.

      Vera war eine eher hagere Person mit kurzen aschblonden Haaren. Keinen Arsch in der Hose, nix in der Bluse – selbst ihr Mann hatte mehr Busen als sie.

      Ihre fahle Haut zeigte schon einige tiefere Falten auf der Stirn und rund um die Augen.

      Auch sie sah älter aus, als sie war. Vielleicht lag das in ihrem Fall nicht nur am Wetter oder an minderwertigen Genen, sondern daran, dass sie viele Jahre geraucht hatte. Bei den Giften in einer Zigarette war es kein Wunder, dass die Haut welk wurde.

      Veras kleiner Laden, mitten im Ortskern gelegen, war eine logistische Herausforderung. Trotz der stark reduzierten Grundfläche gab es eine bunte Palette sämtlicher gängiger Produkte.

      Brot und Brötchen gleich im Eingangsbereich, gleich daneben Zeitungen und Zeitschriften. Drehte sich der Kunde um, stand er auch schon in der Obst- und Gemüseabteilung. Danach kam die Frischetheke mit Milchprodukten, Wurst und Käse. Weiter hinten Spirituosen und ganz am Ende alles für die Hygiene. Auch Hunde- und Katzenfutter führte sie im Programm.

      Neuerdings hatte sie ihr umfangreiches Laden-Sortiment um einen kleinen Kaffeeausschank erweitert. Das wurde vor allem von den Dorfbewohnerinnen sehr positiv angenommen. Ein kleines, selbst kreiertes Schild an der Glastür wies auf Coffee to go hin.

      Selbstverständlich hätte sie auch Kaffee zum Mitnehmen schreiben können, doch ein wenig internationaler Flair stand dem Laden ganz gut zu Gesicht. Sie musste eben mit der Zeit gehen. Vera überlegte sogar schon, einen großen Flachbildschirm über dem Wursttresen installieren zu lassen. Ihre Kundschaft könnte mittags schon ›Rote Rosen‹ und nachmittags dann ›Shopping Queen‹ sehen. Die Serie ›Rote Rosen‹ war ihre Lieblingsserie. Seit der ersten Folge schwärmte sie für Lüneburg und teilte allen mit, dass das die – sie betonte das Wörtchen immer – Alternative zu Tottenbüttel wäre. Dort könnte sie sich vorstellen, irgendwann mal hinzuziehen. Böse Zungen behaupteten, jeder Ort wäre eine ernst zu nehmende Alternative zu Tottenbüttel. Nur ihr Mann Werner konnte mit der ›Großstadt‹ überhaupt nichts anfangen.

      Der Duft von frischen Brötchen, Croissants und Milchhörnchen legte sich über frisches Obst und Gemüse. Dieser leckere Geruch waberte bis nach draußen auf den Bürgersteig und lockte so manchen Frühaufsteher auf dem Weg zur Arbeit oder beim Gassi-Gehen in ihren Laden.

      Angeliefert wurde von einer Bäckerei in der Nähe, die auch alle Nachbarorte versorgte.

      Schnell entstand hier eine illustre Frauenrunde, die sich bei einem Käffchen und einem Schwätzchen traf. Manchmal war auch ein Sektchen dabei. Zwar hatte Vera keine Lizenz für einen Alkoholausschank, aber wo kein Kläger, da kein Richter … oder so.

      Hier gab es immer viel zu schwatzen, zu lästern und zu schludern.

      Der Morgen verlief relativ ruhig. Erst gegen Mittag füllte sich der Verkaufsraum, und der kleine Stehtisch wurde sozusagen nach dem Rotationsprinzip von einigen Frauen besetzt.

      Im Moment anwesend: Die Yoga-affine Frauke Puttfarken in einem knallroten, undefinierbaren Irgendwas mit bunten Knöpfen auf der Brust. Es sah aus wie ein Overall, unterschied sich aber darin, dass er hinten zweigeteilt war. Man wusste nicht so recht, ob die hintere Öffnung so gewollt war. Über dem Clowns-Ding trug sie eine blaue Stola im Batik-Look. Colour-Blocking nannte sie das. Niemand hatte auch nur ansatzweise eine Idee, wo man solche Geschmacklosigkeiten kaufen konnte. Wurde auch nirgendwo gekauft – war selbst genäht, wie sie immer wieder stolz betonte. Die grauen Haare waren echt grau, nicht gefärbt, wie es momentan hip war. Halblang, struppig und widerspenstig wucherte es auf ihrem Kopf. Auch ihre Augenbrauen wucherten, und zwar buschig. Aus den Borsten hätte man zum Beispiel ein Haarteil für schuldlos an Haarausfall leidende Frettchen knüpfen können. Zupfen kam für sie nicht in Frage. Auch die Haare an Beinen und unter den Achseln wucherten augenscheinlich unkontrolliert. Ihrer Meinung nach hatte sich die Natur etwas dabei gedacht, nämlich die Haut mit Haaren zu schützen. Aber wovor? Vor freien Radikalen?

      Vor einiger Zeit hatte sich Fraukes gesamte Lebenseinstellung geändert. Sie war zum Veganismus übergetreten. Nicht etwa, weil es modern war, sondern aus voller Überzeugung. Von einem Tag auf den anderen verweigerte sie sich den Tieren. Aber auch die Tiere wollten mit ihr nichts mehr zu tun haben. Immer mehr Hunde auf der Straße bellten sie an.

      Manchmal war es so krass, dass sie sogar von wildfremden Hunden angepinkelt wurde, wenn sie irgendwo zu lange stehen blieb und die Vierbeiner ihren Weg kreuzten.

      Vor einiger Zeit musste sie sich sogar vor Gericht verantwortlichen, weil sie sich lebensmüde vor einen Schweinetransporter geworfen und den Fahrer zum Anhalten genötigt hatte. Sie kettete sich mit Handschellen an die hintere Tür des LKW und schrie Anti-Massentierhaltungs-Parolen.

      Nicht nur der Fahrer, auch die Schweine waren damals erleichtert, als man sie endlich von der bunten Frau befreite.

      Dann war noch Birgit Schneider anwesend, Beamtenfrau und Mutter, die aber gleich wieder losmusste, um ihre Gören von der Schule abzuholen. Die zehnjährigen ›Terroristen-Zwillinge‹ Tim und Tom hatten mal wieder früher schulfrei als ihre Klassenkameraden.

      Das Terror-Duo hatte sich an der Wand der Sporthalle künstlerisch betätigt und die Graffiti-Malerei für sich entdeckt. Ein riesiges Hinterteil in Knallrot und die Weltkugel in Blau-grün, irgend so etwas ließ sich ausmachen. Dieses Bilderrätsel wurde von der Kunstlehrerin Frau Anneliese Hoppe als eigenwillig, aber kreativ umgesetzt bewertet.

      In letzter Zeit wurde Doppelmutter Schneider ziemlich häufig von der Klassenlehrerin vorgeladen. Einen Schulwechsel hatten die beiden Jungs schon hinter sich. Birgit Schneider hätte die Erziehungsberechtigung nur zu gerne abgegeben, an Gandalf, Gollum oder Lord Voldemort beispielsweise. Auch gegen Freddy Krüger hätte sie nichts einzuwenden gehabt.

      Bevor sie zwecks Wiederaufnahme der Erziehungsverantwortung verschwand, ließ sie noch ihre perfekt manikürten Fingernägel bewundern.

      »Das ist der letzte Schrei aus London«, sagte sie und hielt den Frauen ihre Krallen vor die Nase, »Rubinrot mit Strass. Passt eigentlich zu allem.«

      Die dritte im Bunde war Physiotherapeutin Anke Hoyer-Schmidt, eine junge, hübsche Zugereiste mit Rehaugen. Ihr langes blondes Haar trug sie fast immer zu einem Zopf gebunden. Eigentlich war sie `n büschen zu attraktiv für hier. Die Männer im Dorf liebten ihre roten High-Heels, die sie häufig zum Schützenfest trug und damit den Rasen vertikutierte. Sie gönnte sich bei Vera erst einmal eine Erholungspause. Ihr letzter Patient hatte sie ziemlich in Anspruch genommen. Herr Tegen klagte schon länger über Rückenprobleme und war von Doktor Hagen an Ankes Praxis überwiesen worden. Herr Tegen, zirka einhundert Kilo schwer, war eine Belastung für ihren eigenen Rücken gewesen. Darum begnügte sie sich auch nicht nur mit Kaffee, sondern orderte ein Piccolöchen.

      »War das nicht schon in der letzten Saison modern?«, fragte Anke vorsichtig, während sie am Sektglas nippte.

      »Nee, nicht mit Glitzer«, sagte Frau Schneider.

      »Das ist mir viel zu bunt«, teilte Frau Puttfarken mit und erntete einen spöttischen Das-sagt-die-Richtige-Blick der anderen Damen.

      Ja, der Tante-Emma-Laden erinnerte im Moment an das, was er öfter war: Boulevard-Theater mit Laiendarstellern.

      Bevor Frau Schneider losfuhr, berichtete sie den anderen noch einmal die Geschichte von den dunklen Gestalten, die sie beobachtet hatte.

      »Die waren eindeutig nicht von hier«, sagte sie geheimnisvoll. »Die haben durch die Fenster von Knuths Laden geguckt und sprachen in so `nem komischen Slang miteinander … ich glaub, das war Italienisch. Ich traue solchen Typen ja nicht, wisst ihr? Ruckzuck haben die alles ausbaldowert und wenn die Zeit günstig ist … peng«, sie schnipste mit den Fingern, » … steigen die da ein. Ich mach gar nicht daran denken, wenn die bei uns mal einbrechen … das sind ja nicht nur die materiellen