Sie starrte auf den riesigen Mann am Boden, als sich seine Finger bewegten. Adrenalin aktivierte aufs Neue ihre Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Martina entschied sich für die Flucht, um im Eifer des Gefechts über einen harten Gegenstand zu stolpern und geradewegs wieder auf dem Boden zu landen. Sie krachte zuerst auf ihre linke Schulter und dann mitten aufs Gesicht. Ein stechender Schmerz schoss durch ihre Schulter bis in die Schläfe und ins Nasenbein. Sie schrie und raffte sich auf - ihr Adrenalin stärker als jede Verletzung -, schaute nach hinten und sah Eduard mühevoll aufstehen. Vor ihr lag der Gegenstand, über den sie gestolpert war: ein silberner Aluminiumaktenkoffer.
„Du willst es wirklich wissen, nicht wahr, Martina?“, schrie Eduard in die Dunkelheit und den peitschenden Regen.
Sie konnte seine Worte kaum verstehen und musste jetzt Gas geben, sonst war es zu spät. Sie rannte los. Sträucher, Büsche und florale Überreste versetzten ihr einen Hieb nach dem anderen. Ihre Augen waren angeschlagen. Sie konnte nichts klar erkennen, die Konturen verschwammen ineinander. Was sie jetzt aber sehen konnte, waren die Laternen des spärlich beleuchteten Hauptweges; also wechselte sie die Laufrichtung nach links und spurtete los. Ihre Prellung und ihr angebrochenes Nasenbein sandten keine Schmerzen mehr. Sie rannte um ihr Leben - um ihr junges Leben. Sie war doch gerade erst Ende 20 und hatte noch so viel vor. Sie wollte doch Lucas heiraten und ihre Geschäftsidee umsetzen und einen Freundeskreis in Berlin aufbauen. Sie stand doch mitten in der Blüte ihres Daseins. Sie begann doch gerade erst, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Und jetzt so etwas.
Sie erreichte den Hauptweg und wusste nicht in welche Richtung. Wie viele Male war sie schon hier gewesen und jetzt wusste sie nicht wohin. Was für ein Dilemma! Sie hatte keine Zeit für solch einen Mist. Konzentrier dich, Martina, los, konzentrier dich. Und dann sah sie ihn: den Wegweiser Richtung Hermannstraße! Da musste sie hin und rannte los. Immer wieder schaute sie nach hinten. Wo war er geblieben? Egal. Sie musste einfach nur rennen. Endlich bekam sie einen Ton heraus; zuerst einen krächzenden, dann einen heiseren und schließlich einen klaren - ein befreiendes: „Hilfe... Hilfe!“
Das Unwetter war im vollen Gange, keine Menschenseele weit und breit. Wo ist meine Handtasche, schoss es aus dem Nichts in ihren ohnehin schon überforderten Verstand. „Oh mein Gott, ich habe meine Handtasche nicht dabei.“ Panisch griff sie in ihre Hosentaschen. Da war er! Der Schlüsselbund! Erleichterung! Sie beschleunigte. Rannte was das Zeug hielt am Wegweiser vorbei Richtung Columbiadamm. Wieder bekam sie ein befreiendes „Hilfe... Hilfe!“ heraus, gelangte über die Fontanestraße zum Herrfurthplatz, wo sie in der Schillerpromenade in einer schicken und frisch sanierten Berliner Altbauwohnung ein beschützendes Dach über dem Kopf hatte.
Martina knallte die Tür hinter sich zu, rannte ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. Unverzüglich fing sie an zu weinen. Tränen der Angst und der Ausweglosigkeit überschwemmten ihr geschundenes Gesicht.
„Papa! Ich muss Papa anrufen. Nein! Ich muss Lucas anrufen.“ Sie wischte sich die Tränen ab und ließ das Wasser laufen, um ihr Gesicht zu waschen. Es zu reinigen von seinen widerlichen Händen, deren Geruch nachwievor auf ihrer Haut klebte. Sie eilte in den Flur, hechtete ans Telefon, wählte Lucas‘ Nummer. Freizeichen. „Los komm, geh dran. Melde dich! Bitte, melde dich!“ Sein Anrufbeantworter. „Lucas, bitte geh dran… Bitte nimm ab! Ich bin’s, Martina…“ Sie wollte gerade dem Anrufbeantworter erklären, was passiert war, als jemand die Wohnungstür aufschloss.
Er trug einen weißen Mundschutz und betrat langsam die Wohnung. Die Schockstarre aus dem Park war zurück. Sie konnte sich weder bewegen noch um Hilfe schreien.
„Martina.“
Kein Wort bekam sie mehr heraus. Er hatte den silbernen Aluminiumkoffer dabei. In der linken Hand ein Messer. Über der linken Schulter ihre Handtasche.
„Martina. Martina.“
Er trug eine knielange beige Regenjacke und seine Beine waren mit einem weißen Stoff eingehüllt. An den Händen trug er weiße Latexhandschuhe. Eduard stellte den Koffer ab, schloss die Tür und warf den Schlüssel und die Tasche vor ihre Füße. „Den hast du stecken lassen. Und die hast du vergessen.“
Scheiße, dachte sie, immer noch nicht in der Lage, zu reagieren.
„Weißt du, was ich hier in der Hand halte?“
Sie ahnte Schreckliches.
„Das ist ein Wurfmesser. Okay?“
Nicht einmal mehr nicken konnte sie.
Er musste an die zwei Meter groß sein. Seine Augen waren weder feurig noch Furcht einflößend. Sie wirkten jetzt ruhig und gelassen, fast schon freundlich.
„Hast du wirklich geglaubt, du wirst mich so schnell los?“ Er blickte auf das Telefon und signalisierte mit eindeutigem Blick, sie möge umgehend auflegen. „Wenn du schreist werfe ich dir das Messer zwischen deine Augen - schneller als du sehen kannst. Okay?“
Sie legte auf.
„Du musst verstehen, wenn ich mir etwas vornehme, dann ziehe ich es auch durch.“
Sie dachte an die Unterhaltung mit ihrem Vater.
Eduard entledigte sich seiner Jacke, warf sie auf den Boden und stand in voller Ausrüstung vor ihr: ein weißer Ganzkörperschutzanzug mit Kapuze, Mundschutz und Latexhandschuhen. „Die Jacke ist aus Latex und die Schuhüberzieher aus Kunststoff. Die haben heutzutage alles Mögliche drauf. Man muss vorsichtig sein. Verstehst du das, Martina?“ Dann setzte er die Kapuze auf und kam auf sie zu.
3
An einem darauffolgenden Samstagmorgen erhielt Borchardt aus heiterem Himmel eine SMS von Tomas. „Komm zu den Heckmann-Höfen. Eingang Auguststraße. Es ist soweit, ich brauche dich!!!“
Der Ton der SMS deutete an, dass Tomas etwas Heftigem gegenüberstand. Borchardt war in der Lage, die Stimmungen geschriebener Worte genauso zu erfühlen wie die seelische Verfassung eines Redners. Und als er ein wenig später an den Heckmann-Höfen in Mitte ankam, bestätigte sich seine Gewissheit. Das gesamte Gebiet war weiträumig abgesperrt. Überall Polizisten, Kriminaltechniker und Mitarbeiter der Spurensicherung - ein Großteil in Ganzkörperschutzanzügen - und nicht zu vergessen die Schaulustigen.
Die Größe der Absperrung wies auf ein außergewöhnliches Verbrechen hin. Auch wenn die Quantität der Tötungsdelikte in Berlin zurückgegangen sein soll, so war die Brutalität zweifellos angestiegen. Die Morde, mit denen Borchardt während der laufenden Ermittlung im Fall Schlitzer zu tun hatte, waren verabscheuungswürdig und der Presse weitestgehend vorenthalten worden.
Borchardts Armbanduhr schlug genau 7:29 Uhr. An diesem bereits schwülen Morgen, der versicherte, erneut ein heißer Tag zu werden, bewies die Hauptstadt einmal mehr, dass sie zu einem Albtraum werden kann, zu einem fürchterlichen Albtraum. Und der zu dieser Geschichte gehörende Angsttraum begann genau in jenem Moment, als Borchardt Tomas‘ SMS zu Ende gelesen hatte. Auf Anhieb spürte er, dass Tomas erschüttert, erschrocken, ja zutiefst geschockt sein musste. So schnell ließ er sich doch nicht aus der Ruhe bringen. Dafür hatte er im Laufe seiner erfolgreichen Karriere im gehobenen Polizeivollzugsdienst zu vielen Toten in die Augen geschaut und sich bis über die Stadtgrenzen hinaus einen ihm verhassten Spitznamen zugelegt. „Der Täterschreck“ wurde er in Fachkreisen genannt. Er löste nämlich Fälle, die mittlerweile als Fallbeispiele in Lehrbüchern auftauchten. Er konnte sich derart in einen Fall verbeißen, dass ihn nichts und niemand aufhalten konnten, den Fall zu lösen.
Tomas stand vor dem Eingang Auguststraße. Er spürte Borchardts Anwesenheit und drehte sich zu ihm um, als im selben Moment eine Polizeibeamtin aus den Höfen auftauchte, um sich unmittelbar Vorort zu übergeben. Sie kotzte direkt auf den Bürgersteig der feinen Auguststraße und, wie Borchardt fand, eine ungeheuer