nun wohl meist abgekommener volkstümlicher
Rechtsbräuche in Schimpf und Ernst gedacht – wie
die Nrn. 61, 190, 341, 646, 716, 739, 771, 773, 802,
810, 830, 835, 870, 871, 874, 947-951 dartun, und
wurde selbst manches der Sprache abhanden gekommene
echt deutsche Wort wieder in sein Recht eingesetzt,
auch überhaupt manche Hindeutung, mancher
Fingerzeig gegeben, der einem und dem andern vielleicht
nicht unwillkommen sein wird.
Ferner wurde mit gutem Grunde Rücksicht auf die
Verwandtschaft der Sagen untereinander durch einfa-
che Hinweisung genommen. Hierin bleibt der Sagenforschung
noch eine wichtige Aufgabe; die Verwandtschaft
der Sagen geht häufig bis zur Zwillingsschwesterschaft;
es sei nur an die Gangolfsbrunnen in Burgund
und in Franken erinnert, Sagen Nr. 139 und
768, an die Doppelehe in Preußen und in Thüringen,
Nr. 338 und 598, an die Kinderzüge, -tänze und -andachten
Nr. 588, 647, 879, wie an die Kinderhinwegführung
durch den Rattenpfeifer von Hameln, Nr.
294, und den Teufelsgeiger im Brauschtal, welche
letztere Sage August Stöber in seinen Sagen des Elsasses,
St. Gallen 1852, unter Nr. 160 mitteilt, so
auch an die drei Auflagen Nr. 280 und 754.
Es bedarf kaum noch der Erwähnung, daß die Sagenkunde
jetzt bereits so gut auf den Standpunkt einer
Wissenschaft gehoben ist als jede andere Hilfswissenschaft
der Geschichte, als Denkmal-, Wappen-, Siegelkunde
usw., und dabei ist sie eine ungleich lebendigere,
denn sie nimmt nicht nur vom toten Stein,
Schild und Wachs, sondern auch vom immerlebenden
Mund des Volks ihre Zeugnisse. Aber leider entzieht
die moderne Aufklärsucht mehr und mehr dem Volke
seine Wunderblumen, jätet seine Poesie aus mit
Stumpf und Stiel und reicht ihm dafür unter dem
Namen des Apfels vom Baume der Erkenntnis den aschevollen
Sodomsapfel sogenannter politischer Reife
und den beißenden Rettich der Verhöhnung alles Ge-
mütvollen, Edlen und Schönen, allen Glaubens und
aller Treue. Darüber ließe noch vieles sich anführen
und sagen, doch müßte ich nur das mannigfache Gute,
was über Sagenforschung und dahin Einschlagendes
in den Einleitungen der Grimmschen, der Wolfschen,
der Müllenhoffschen, der Tettau-Temmeschen, der E.
Meyerschen und andern Sammlungen gesagt ist, wiederholen.
Auch A. Schöppner entwickelt in der Einleitung
zu seinem Sagenbuch der bayrischen Lande
viel Wahres und Beherzigenswertes über diesen
Punkt.
Möge die neu erwachte Pflege der deutschen Sagenblumen
in strengwissenschaftlicher wie in schönwissenschaftlicher
Beziehung, in ihrer Echtheit und
ungeschmückten, ungeschminkten Einfachheit mehr
und mehr Freunde finden und Boden gewinnen! Sie
verdient es, und sie lohnt es durch geistigen Genuß.
Welchen Bilderreichtum bietet sie nicht dem Dichter,
dem zeichnenden wie dem plastischen Künstler dar,
welch eine reiche Stoffülle! Ja, die deutsche Sage
bleibt ein fort und fort frischquellender Goldborn für
Poesie und Kunst, und – was noch höher zu achten,
sie bleibt trotz allem Hohnlächeln der Neugescheiten,
allem Gegenbemühen, allem Abschleifen und Verflachen
und trotz der verkehrten Aufklärungssüchtelei
der seminaristischen Afterschulbildung wie der konsistorialen
und polizeilichen Vevormundung eine
frischlebendige, unverwüstliche, sittliche und sittigende
Volkskraft.
Meiningen, am 24. November 1852.
L u d w i g B e c h s t e i n .
Kapitel 2
1. Vom deutschen Rheinstrom
Heilige Wasser rinnen von Himmelsbergen – singt
die Edda, das uralte Götterlied, so auch der Rhein,
des deutschen Vaterlandes heiliger Strom, rinnt vom
Gottesberge (St. Gotthard), aus Eispalästen, aus dem
Schoße der Alpen nieder, als Strom des Segens.
Schon die Alten sagten von ihm: Die Donau ist aller
Wasser Frau, doch kann wohl der Rhein mit Ehren ihr
Mann sein – und die Urbewohner der Stromufer erachteten
seine Flut für also wunderbar, daß sie neugeborene
Kinder ihr zur Prüfung echter oder unechter
Geburt übergaben. Rechtmäßige Abkömmlinge trug
die Stromflut sanft zum Ufer, unrechtmäßige aber zog
sie mit ungestümen Wellen und reißenden Wirbeln
als ein zorniger Rächer und Richter der Unreinigkeit
unter sich und ersäufte sie. Andere Anwohner brachten
dem heiligen Strome ihr Liebstes, Pferde, zum
Opfer dar. Durch Hohenrätiens Alpentalschluchten
stürzt sich der Rhein mit jugendlichem Ungestüm, frei
und ungebunden, umwohnt von einem freien Bergvolke,
das in Vorzeittagen hartlastende, schwerdrückende
Fesseln brach. Da zwang ein Kastellan auf der Bärenburg
die Bauern, mit den Schweinen aus einem Trog
zu essen, ein anderer zu Fardün trieb ihnen weidende
Herden in die Saat, andere übten noch andere Frevel.
Da traten Hohenrätiens Männer zusammen, Alte mit
grauen Bärten, und hielten Rat im Nachtgraun unter
den grauen Alpen. Auf einer felsenumwallten Wiese
ohnfern Tovanosa will man noch Nägel in den Felsenritzen
erblicken, an welche die Grauen, die Dorfältesten,
ihre Brotsäcke hingen. Und dann tagten sie in
Bruns vor der St. Annenkapelle unter dem freien
Himmel, unter der großen Linde, nach der Väter Sitte,
und beschwuren den Bund, der dem alten Lande den
neuen Namen gab, den Namen Graubünden, und daß
der Bund solle bestehen,