So hatte ich mir das Babysitten nicht vorgestellt. Und noch weniger hatte ich mir vorgestellt, heute Abend noch mit Harry vollgeschmiert mit Lebensmitteln auf dem Boden zu liegen, weil wir einfach nicht miteinander klarkommen.
Es ist, als wären wir kleine Kinder. Fast noch schlimmer.
„Oh, Gott, Mama wird das nicht gefallen", holt mich Cocos Stimme aus meinem kurzen Koma und ich öffne die Augen, blicke direkt auf den schmutzigen Boden unter mir.
Ich blinzle. Gott, Misses Heath wird uns so was von umbringen. Es würde mich nicht mal wundern, wenn sie auch noch mich von der Schule schmeißt.
Harry murrt unter mir. „Geh runter." Kurzerhand schubst er mich von sich und wie ein nasser Sack rolle ich auf den Rücken in das Nass unter uns.
Mein Kopf tut höllisch weh, als ich mich aufrichte. Gott, wieso habe ich mich nur durch diesen Idioten zu so einem Mist verleiten lassen? Nicht mal den Anstand, mir aufzuhelfen, bringt er auf.
Als Harry wieder steht und ich mich neben ihn stelle, betrachten wir uns. Wir sehen beide schrecklich aus. Seine Haare sind nass und gefärbt durch die rote Soße. Sein olivgrünes T-Shirt klebt ihm auf der Haut und seine dunkle Jeans scheint noch enger zu sein, dadurch dass sie nass ist. Seine Haut ist ebenfalls befleckt mit roten Punkten. Man könnte meinen, er hätte eine Krankheit.
„Ihr seht echt witzig aus", kichert Coco und mustert uns beide.
Doch Harry scheint das gar nicht witzig zu finden. Er dreht sich wieder vorsichtig zur Spüle, damit er nicht ausrutscht. „Gut gemacht, Violet. Ich hoffe, Heath schmeißt nicht nur mich von der Schule."
Ich hebe die Brauen. „Was? Du gibst mir die Schuld?"
„Würdest du etwa nicht? Guck dir die Sauerei doch an. Du hättest das Wasser einfach stehen lassen sollen. Der Boden ist komplett nass."
„Du hast angefangen!"
Harry wird ebenfalls wütender und deutet auf den Boden unter uns. „Und das war dein Zeichen, die ganze Küche unter Wasser zu setzen?"
„Harry, du –'' Mir fehlen die Worte. Was soll ich auch darauf sagen? Ich bin doch nicht die Schuldige hier, sondern er! Er hätte mich nicht mit den Nudeln beschmeißen sollen! Wenn er nicht angefangen hätte, wäre es nie so ausgeartet!
Wieder ruhiger beginnt Harry, sich am Wasserhahn die Soße aus dem Gesicht zu waschen. „Du wusstest noch nie, wann eine Grenze überschritten ist, also wundert es mich nicht."
Ich wusste noch nie, wann eine Grenze überschritten ist? Das sagt mir derjenige, der mindestens zwanzig Einträge im Schulregister hat und außerdem mit achtzehn noch nicht den wahren Ernst des Lebens verstanden hat? Harry Perlman sagt mir das?
In mir braut sich eine unangenehme Wut zusammen und ich versuche, sie zu unterdrücken, indem ich die Fäuste balle, doch sollte er noch einen falschen Ton von sich geben, explodiere ich. Er hätte von vornherein nicht so unfreundlich in der Schule sein müssen, was ihn eine Menge Ärger erspart hätte. Aber er war unfreundlich und das schon immer, deswegen ist es seine Schuld.
Und plötzlich ertönt ein Geräusch, das mein Herz zum Bersten bringt. Die Haustür.
Scheiße, nein, bitte lass das jetzt nicht geschehen. Boden öffne dich. Bitte!
Hoffnungsvoll kneife ich die Augen zusammen.
„Was ist denn hier passiert?", ertönt die schrille Stimme von der Rektorin unserer Schule und meine Hoffnung ist verschwunden.
Ich drehe mich langsam und schuldbewusst zu ihr um. Wir müssen alle aussehen wie kleine Kinder. Beschmiert mit Tomatensoße und Nudeln in den Haaren.
Misses Heath läuft schon rot an und hält sich die Hände an den Kopf, während sie fassungslos die verdreckte Küche betrachtet. „Was habt ihr nur angerichtet? Die Wände! Der Tisch! Der Boden!" Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment weinen. „Oh Gott, der Boden! Ihr habt alles unter Wasser gesetzt!"
„Es war Harrys Schuld!", haut Coco raus und zeigt auf Harry, der genauso stocksteif wie ich in der Küche steht. „Er ist der Kotzbrocken!"
Mickey klopft auf den Tisch. „Nein, es war Violets Schuld!"
Misses Heath schüttelt nur den Kopf und scheint ihnen gar nicht zuzuhören. „Geht sofort hoch."
Alle schweigen. Für einen Moment fühle ich mich angesprochen, weil Mom zu mir und Rosy auch immer sagt, wir sollen hochgehen, wenn wir etwas anstellen, aber Heath ist zufällig nicht meine Mom, also warten wir, bis Coco und Mickey die Treppen hochgetrottet sind.
In der Küche herrscht wieder Ruhe, als die zwei oben sind.
Ich traue mich, zuerst die Stille zu unterbrechen, weil ich es nicht mehr aushalte. „Misses Heath, wir …''
„Nein", blockt sie ab und hält ihre Hand hoch. „Ihr beide seid ..." Sie schüttelt ungläubig den Kopf. „Ihr seid unmöglich ..."
Ich schlucke schwer. Gott, das endet nicht gut.
„Ich kann das erklären", versuche ich, mich zu erklären, obwohl ich nicht mal weiß, wie ich das alles erklären soll.
„Ihr seid mir keine Erklärung schuldig." Nun richtet sich Misses Heath entschlossener auf, nachdem sie tief durchgeatmet hat. „Anscheinend habe ich mich in Ihnen getäuscht."
Weil sie zu Harry sieht, fühle ich mich erst nicht angesprochen, doch dann sieht sie mich an.
„Violet, du wirst zukünftig nicht mehr meine Kinder betreuen. Ihr beide werdet nachsitzen. Für sehr, sehr lange Zeit. Morgen nach der Schule kommt ihr in mein Büro. Pünktlich. Um drei. Eure Eltern werde ich benachrichtigen und vielleicht, aber nur vielleicht, lernt ihr daraus." Sie sieht zu Harry. „Bei Ihnen habe ich zwar schon jegliche Hoffnung aufgegeben, doch Wunder gibt es immer. Über die Suspendierung werden wir uns noch unterhalten, Mister Perlman. Und jetzt ..." Sie zeigt aus der Küche nach draußen. „Verschwindet."
Ich presse die Lippen aufeinander und kann mich nicht bewegen. Man, so wurde ich ja noch nie von Misses Heath behandelt. „Misses Heath, ich bitte Sie ... Wir können …''
„Raus hier!", kreischt sie nun wild und ist den Tränen nahe. „Bevor ich mich noch völlig vergesse!"
Daraufhin tue ich sofort, was sie sagt. Ich laufe an ihr vorbei, schnappe mir meine Tasche aus dem Flur und verlasse das Haus.
Was ein wunderbarer Start in die Woche. Und wahrscheinlich ist die Woche auch nicht darauf ausgelegt worden, besser zu werden, so wie Heath mit uns gesprochen hat.
Wütend auf mich selbst und auf Harry und allgemein jeden auf der Welt stampfe ich aus dem Hof vorbei an dem weißen Gartenzaun durch die Dunkelheit. Mit Soße beschmiert und nassen Klamotten.
Schlimmer kann es kaum werden. Kaum bin ich Harry näher als zwei Meter, habe ich jede Menge Probleme am Hals. Kein Wunder, dass er kein Bestandteil meines Lebens mehr ist.
„Violet!"
Ich drehe mich nicht um.
„Violet, jetzt warte doch mal!"
Schließlich bleibe ich doch stehen und drehe mich um. Wenn mich jemand ruft, muss ich einfach reagieren, auch wenn es nur Harry ist. Harry kommt mit schnellen Schritten auf mich zu, während ich höre, wie Misses Heath die Haustür laut zuknallt.
„Falls du dich bei mir entschuldigen willst, dann kannst du es stecken lassen", sage ich, noch bevor er bei mir ankommt. „Absolut nicht nötig, ich will es nämlich gar nicht hören."
„Ich hatte nicht vor, mich bei dir zu entschuldigen." Er bleibt vor mir stehen. „Ich soll dich nach Hause fahren."
Ich lache auf und drehe mich um, damit ich weiter den Weg nach Hause ansteuern kann. „Nie im Leben steige ich in dein Auto."
Stöhnend