Abgrundtiefe Panik erfasste sie.
„Nein, bitte, tun Sie das nicht“, hörte sie sich selbst leise wimmern. Ihre Stimme erinnerte sie an die junge Josephine, die sich in Paris ängstlich zusammengekauert hatte und von einem Unbekannten gerettet worden war – aber seit damals war sie schon viele Jahre auf sich allein gestellt.
Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass die etwa fünfjährige Alice mit ihrem rotblonden Lockenkopf sie voller Mitleid ansah und sich dann zwischen sie und den etwa eins neunzig großen und ziemlich wild wirkenden Mann stellte. Mit all ihrer Kraft trat die Kleine dem muskelbepackten, aggressiven Kerl auf den Fuß. Sie legte ihre Stirn in Falten und sah ihn so böse an, wie es einem kindlichen Gesicht nur möglich war.
„Sie ist meine Freundin! Geh weg von ihr oder ich sage meinem Papa, er soll dich beim nächsten Training ganz doll verhauen!“
Jo bemerkte, wie das Verhalten der kleinen Alice den Kerl aus dem Konzept brachte. Er hielt inne und schaute ernst zu dem Mädchen herunter.
„Alice, das verstehst du nicht.“
„Oh, doch!“, stieß sie energisch hervor und stampfte mit ihrem Füßchen auf. „Und ich will das nicht! Wir haben uns gerade erst kennengelernt und sie ist sehr nett! Sie pflanzt mir einen Garten, in dem ich Beeren pflücken kann, und ein richtiges Indianerzelt kann sie mir auch bauen, nicht wahr?“
„Ein echtes Tipi?“, fragte Jo perplex, als sie große Kinderaugen erwartungsvoll anschauten. In dem Gefühl, hier einen Deal mit einem äußerst wichtigen Verbündeten eingehen zu können, nickte sie. „Ähm, ja, das kann ich gerne machen. Aber das würde Extrakosten verursachen, da musst du schon vorher deine Mutter …“
Abrupt wandte sich die Kleine an die Frau, die sich mit Rose bei ihr vorgestellt hatte. „Bitte, Mami, bitte, bitte, bitte …“
„Schon gut Alice. Wenn es zu teuer wird …“
„Dann zahlt dir das dein Großonkel“, wurde Rose von dem älteren Mann unterbrochen, der gerade zu ihnen getreten war und sich ihr zuvor beim Einlass auf das Grundstück als Walter vorgestellt hatte. Der hatte sie auch vor dem Betreten des Geländes auf Waffen abgetastet und wirkte trotz seines Alters sehr fit.
Dieses Abtasten hätte sie gleich stutzig machen sollen!
Wo gab es denn so was?
Waren die hier denn alle paranoid?
Wenn sie diesen Auftrag nur nicht so dringend bräuchte!
Nein, es reichte! Sie würde nicht alles mit sich machen lassen.
„Ich glaube, es ist besser, wenn Sie sich jemand anderen suchen. Ich werde ihnen für die Anfahrt und die Zeit hier nichts in Rechnung stellen.“
Jo drehte sich um, doch die kleine Alice zog sie an der Hand zurück.
„Nein, bitte! Bitte, geh nicht!“
Im gleichen Moment stellte sich auch dieser Walter zwischen sie und den aggressiven Kerl und sagte: „Anordnung vom Chef, Quint. Du sollst in sein Büro, und zwar sofort.“
„Ich wollte hier gerade noch etwas Wichtiges erledigen“, wies dieser Quint ihn zurecht.
„Ja, das ist mir klar. Genau deshalb will Agnus dich sofort sehen.“
Der ein ganzes Stück kleinere, aber drahtige und leicht grauhaarige Walter blieb wie eine deutsche Eiche vor Quint stehen.
Wutschnaubend rief der Typ mit den wilden, feuerroten Locken ihr über Walter hinweg zu: „Denken Sie ja nicht, Sie könnten sich hier einnisten! Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen! Wehe Sie machen hier Fotos oder nehmen Ihr Handy mit auf unser Gelände! Und Fingerabdrücke will ich auch von Ihnen!“
„Haben Sie eigentlich einen Knall oder nur Verfolgungswahn?! Meine Fingerabdrücke werden Sie nicht bekommen, ich bin doch keine Straftäterin! Und mein Handy habe ich selbstverständlich dabei. Ich führe ein Geschäft. Ich muss für meine Kunden erreichbar sein.“
„Quint, du bist fertig hier. Setz deinen Hintern in Bewegung, Agnus wartet“, sagte Walter in einem kompromisslosen Befehlston und einer Art, die Jo an das Militär erinnerte.
Wo war sie hier nur hineingeraten?
Sie musste hier weg, schleunigst.
Mit geballten Fäusten rückte dieser Quint ab, rief ihr aber noch zu: „Seien Sie sich sicher, dass ich jederzeit ein wachsames Auge auf Sie habe!“
Sein zorniges Knurren hätte einem wütenden Grizzly alle Ehre gemacht.
So viel Geld könnte man ihr gar nicht bieten, dass sie hier auch nur eine Minute länger bleiben würde.
Oh doch, sagte ihr Verstand. Dir steht das Wasser bis zum Hals. Wenn einer Geld braucht, dann du!
Doch ihr Zorn war größer, und ehe sie es sich anders überlegen konnte, erklärte sie: „Dieser Mann ist ja irre! Hören Sie, unter diesen Umständen …“
„Bevor Sie einen Entschluss fassen, lassen Sie mich etwas erklären“, bat Walter.
Kaum hatte er seinen Satz beendet, rief ihm Rose etwas in einem unverständlichen Stakkato in einer Sprache zu, die für Jo wie Spanisch klang, was zu Rose’ südländischem Äußeren mit dem dunklen Teint und den langen, rabenschwarzen Locken passte.
Dann wandte sich Rose an das Mädchen: „Alice, du darfst dir ein zweites Eis aus unserem Kühlschrank holen.“
Das ließ sich die Kleine nicht zweimal sagen und rannte voller Begeisterung in Richtung des alten Anwesens.
Als Alice außer Hörweite war, erklärte Walter: „Wie Sie auf unserem Schild gelesen haben, sind wir eine Bodyguardagentur, und dass Alice hier wohnt, hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass sie hier in Sicherheit sein soll. Alice kann sich auf Grund eines Gedächtnisverlustes zwar nicht mehr daran erinnern, aber sie wurde entführt und war viele Tage in den Händen eines Menschenhändlers. Dass wir sie lebend und unversehrt wiederhaben, grenzt an ein Wunder. Quint dachte vorhin, Alice würde wieder entführt. Er hat die Situation falsch eingeschätzt und überreagiert, das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich hoffe, dass Sie in Anbetracht der Umstände darüber hinwegsehen können.“
Angesichts dieser Offenbarung wich ein Großteil der angestauten Wut aus Jo. Sprachlos blickte sie dem Mädchen nach, wie sie über eine der steinernen Terrassen ins Gebäudeinnere verschwand.
„Wer tut so etwas einem Kind an?“, murmelte Jo gedankenverloren.
„Auch die Frauen, die hier wohnen, wurden schon bedroht“, erklärte Walter. „Es ist deshalb wichtig, dass Sie keine Fotos machen, weder vom Gelände noch von den Bewohnern, und geben Sie auf keinen Fall Namen oder andere Informationen an Dritte weiter. Haben Sie das verstanden?“
Im letzten Satz schwang wieder dieser unmissverständliche Befehlston mit und das ließ ihre Gedanken von Alice wieder zu ihrer momentanen Situation zurückkehren.
„Ja, aber Sie müssen mit diesem Kerl reden, denn so ein Verhalten …“
„Verlassen Sie sich darauf, sein Chef wird ihn sich noch in dieser Minute zur Brust nehmen.“
Das war ihr nicht genug.
„Wenn er oder einer ihrer anderen Bodyguards nochmal so eine Rambonummer mit mir abzieht, dann bin ich weg und schreibe ihnen eine saftige Rechnung. Haben wir uns verstanden?“
Den letzten Teil ließ sie nun ebenfalls wie ein Kommando klingen. Die Männer hier mochten hart drauf sein, aber sie konnte das genauso gut. Denn das Leben war ihr Lehrmeister gewesen und die letzten zwanzig Jahre davon ziemlich hart.
Walter quittierte ihren Kommentar mit einem knappen Nicken und verschwand in Richtung des großen, altehrwürdigen Gebäudes.
Im Gegensatz zu ihren starken Worten gerade eben fühlte