Ich bin allein mit Roman!
Einem Vampir, der mir noch vor kurzem nach dem Leben getrachtet hatte. Die Magie der Ker-Lon mochte Großartiges bewerkstelligen können, aber wohl fühlte ich mich in seiner Gegenwart kein bisschen. Meine Angst überwältigte mich bei der Erkenntnis, dass es ihn keinerlei Anstrengung kosten dürfte, mein letztes Stündlein einzuleiten. Unbewusst ging ich rückwärts, weiter von ihm weg und – um präzise zu sein – genau dahin, wo ich den Ausgang vermutete. Doch unvermittelt stand Roman vor mir. Obwohl er bis eben so weit von mir weg gewesen war. Ich erschrak derart heftig, dass ich auf die Knie sank.
Was für eine absurde Reaktion!
Wegzurennen wäre allerdings ebenso absurd und obendrein dämlich gewesen. „Was willst du?“, spie ich ihm giftig entgegen, um meine eigene Angst zu überspielen. Ganz sicher wollte er nicht nur mit mir trainieren. Spielen käme seiner Auffassung des Ganzen bestimmt näher. Er kam noch dichter an mich heran und hockte sich vor mich. Seine Ellenbogen auf den Knien, die Hände ineinander verschränkt. „Dir helfen. Du bist wie eine kleine Schwester für mich, Sam. Ich mag es nicht, wenn du hilflos bist.“ Wirklich? Warum jagst du mir dann ständig Angst ein? „Tue ich das?“ Galant stand Roman auf, drehte sich um und lief ein Stück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mein Herz raste derart heftig, als würde es ein Wettrennen mit einem ICE veranstalten. Und gewinnen! Rückwärts krabbelte ich von ihm weg, bis ich mit der Schulter gegen die Wand stieß. Die war näher gewesen als vermutet.
Zu fliehen war keine Option. Das wusste ich aus Erfahrung. „Kannst du meine Gedanken lesen?“ Eine überflüssige Frage. Dennoch nickte Roman kaum sichtbar und drehte sich dann in Vampirmanier um. Erst neigte er den Kopf zur Seite, dann drehte er den Kopf so, dass er mich ansehen konnte. Erst danach folgte ihm sein restlicher Körper, wobei seine Augen strikt auf mich gerichtet waren. Ok, zumindest war ich mir darüber jetzt im Klaren: Er las mühelos meine Gedanken. Aber beeinflussen konnte er mich nicht.
Oder doch?
Ohne Eile kam er auf mich zu und streckte seine Hand nach mir aus, was mich zurückzucken ließ. „Ich tue dir nicht weh, Sam.“ Sagte das Raubwesen. Hielt er mich für blöd? Sein rechter Mundwinkel hob sich dezent. Seine Augen blieben unbewegt. Ehe ich mich entscheiden konnte, hatte er mein Handgelenk umfasst und zog mich auf die Beine. „Komm schon, Sam. Seit dem Unfall bist du nicht mehr du selbst. Hast du das nicht satt? Oh, warte… eigentlich bist du schon so, seitdem Alan dir den Laufpass gegeben hat.“
Du arrogantes… pah!
Ehe ich verstand, was Roman damit bezweckte, knisterte Energie auf meinen Händen und bildete kleine, weiße Lichtbögen, die sich wie Seile nach ihm ausstreckten. Noch nicht annähernd gefährlich genug, aber immerhin vorhanden. Oh Scheiße. Wenn mir das unbewusst passierte, nur weil ich aufgebracht war…
Mich beruhigend schloss ich die Augen. „Ein Anfang, Sam. Lass uns beginnen.“
„Du hast das absichtlich gemacht?“ Roman hob erneut dezent eine Augenbraue in die Höhe. „Natürlich. Ihr Menschen lasst euch viel zu sehr von euren Gefühlen leiten.“ Ach, durchgeknallte Briam-Vampire nicht? Ein leises Lachen hallte über den riesigen Platz, der mich an einen Turnierplatz des Mittelalters erinnerte. Es fehlten nur ein paar Pferde… und ein paar Sklaven… ein bisschen Blut. Vielleicht noch ein paar Löwen.
„Nun, in manchen Dingen schon. Aber im Allgemeinen nutzen wir die Gefühle anderer zu unserem Vorteil.“ Ich verstand durchaus, was er meinte. Lust zum Beispiel. Ein willkommenes Lockmittel, um geeignete Blutspender zu finden. „Sehr schön, du hast es begriffen. Und jetzt komm, greif mich an. Ich bin ein böser Vampir, der dich möglicherweise als Vorspeise betrachtet.“ Nur als Vorspeise? Hah, ich bin mindestens ein Hauptgang!
Sein leises Lachen frustrierte mich und erneut kroch die Energie über meine Haut. Leider zu schwach, als dass ich Roman damit auch nur hätte kitzeln können. „Konzentrier dich, Sam!“
Gut.
Konzentration.
Das konnte ich.
Tief einatmend schloss ich die Augen und öffnete mich für meine Fähigkeiten als movere. Doch als ich meine Augen aufmachte und versuchte Romans Energiepunkte zu benennen, fand ich nichts. Eine absolute, vollkommene Schwärze anstatt unzähliger, leuchtender, verstreuter Punkte. Keuchend zog ich die Möglichkeit in Betracht, dass mir meine Gabe abhandengekommen war, bis mir einfiel, dass ich seine Chakren – seit seinem Rachekreuzzug – nie hatte erkennen können. „Sam, Sam.“, tadelte mich Roman, „Du solltest zuerst deine Seite als Saphi aktivieren. Meine Chakren kannst du später immer noch studieren.“
Entmutigt schüttelte ich den Kopf. Wie hatte ich das nur vergessen können? „Aber du hast keine.“ Roman bewegte sich so schnell, dass ich ihm mit den Augen nicht folgen konnte. Plötzlich stand er hinter mir. Seine Arme fest um meine Schultern gelegt. „Ich habe sie versteckt. Du kannst später spielen. Jetzt zeig mir endlich, dass du dich gegen mich verteidigen kannst.“
Genau, gegen ihn!
Steward hatte mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass Roman das einzige Lebewesen war – zumindest kannte ich bis jetzt kein anderes – das meinen Fähigkeiten gegenüber immun war. Trotzdem hatte ich angenommen, dass ich meine movere-Gabe üben sollte. Die der Saphi brauchte ich nämlich im Allgemeinen nicht, wenn ich einen Auftrag erfüllte. Und das Training diente doch diesem Zwecke, oder? Hatte Steward Angst, dass ich den Auftrag vermasselte, wenn ich meine Fähigkeiten – die der Saphi und der movere – nicht beide unter Kontrolle hatte? Es wäre zumindest denkbar. Ich hatte kein Vertrauen in mich, was diese Angelegenheit betraf.
Wie sollte also Steward Vertrauen in mich haben?
Das Training dauerte Stunden. Gefühlte Wochen; wenn nicht sogar Monate. Hinterher war ich derartig ausgepowert, dass ich kaum noch allein stehen konnte. Dabei waren zwei Dinge ziemlich Besorgnis erregend. Erstens: Meine Treffsicherheit war gleich Null. Obwohl Roman sich keinen Millimeter bewegt hatte. Zweitens: Meine Energiereserven waren aufgebraucht. Komplett. Und was das bedeutete, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Ich würde der Stadt jeglichen Saft abzapfen, wenn ich mir nicht schleunigst ins Gedächtnis rief, was Humphrey mir beigebracht hatte. Nur zu gut erinnerte ich mich an die von mir erledigten Taschenlampen; kurz nachdem ich das erste Mal aus Spline zurückgekommen war. Und zu diesem Zeitpunkt war ich trunken von Magie. Jetzt jedoch war ich vollkommen leer. Auf Alan konnte ich mich auch nicht mehr verlassen.
Kein Humphrey.
Kein Alan.
Nur die Gewissheit, dass ich es allein durchstehen musste. Schon kurz nach dieser Feststellung fühlte ich, wie ich sämtliche in meiner Nähe befindliche Energie anzog. „Falls die Magie, die ich hier fühle, das Gebäude tarnt, solltest du mich sehr schnell woanders hinbringen. Am besten an einen Ort, an dem ich auftanken kann.“, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Der Drang, mich sofort und ohne Zurückhaltung zu nähren, war enorm. Roman reagierte sofort. Bevor ich nach Luft schnappen konnte, stand ich an der Grenze zu Spline. „Zehn Minuten. Wenn du länger brauchst, werde ich sehr ungemütlich. Und was das bedeutet, muss ich dir nicht erklären.“ Seine kurz aufblitzenden Fänge zeigten mir sehr, sehr, sehr deutlich, was er meinte.
Ich nickte, entledigte mich meines Pullovers – ich wollte mich in Spline nicht zu Tode schwitzen – und überquerte die Grenze nach Spline.
Ja.
Jaah.
Jaaah!
Das war es, was ich brauchte. Die Augen geschlossen, die Arme weit von mir gestreckt, suhlte ich mich in der sofort zugreifenden magischen Energie. Sie erschien mir wohltätiger als ein kühler Wasserfall im Hochsommer. Und das, obwohl in Spline geschätzt an die fünfzig Grad herrschten.
Natürlich ahnte ich, warum mir Roman nicht mehr als zehn Minuten zugestand. Er hatte keinen Bock, länger in der Botanik herum zu stehen und auf mich zu warten.