Schnell wand ich den Blick ab und versuchte, mein aufgewühltes Inneres unter Kontrolle zu bringen. Wenigstens konnte ich nirgendwo Blut oder verstümmelte Leichen entdecken. Wenig beruhigend für meine momentan schwachen Nerven. Wahrscheinlich verfügte dieser Laden über fantastisch geschultes Reinigungspersonal. Mit Verschwiegenheitsklausel und der Androhung plötzlicher Unfälle.
Ich war nicht frustriert.
Und ich war auch nicht sarkastisch!
Fest presste ich meine Lippen zusammen und ging unverrichteter Dinge Richtung Ausgang. Dass die Tür eine Tonne wog, hatte ich schon erwähnt, oder? Dementsprechend hing ich an deren Klinke wie ein Schluck Wasser. Sehr schön. Ich kam mir überhaupt nicht dämlich vor. Wie schafften es normale Menschen, diese Tür zu öffnen? Gar nicht, wurde mir klar. Denn im Moment besaß ich die Kraft eines normalen Menschen; keinesfalls die einer movere.
„Brauchst du Hilfe?“ Wozu hatte ich meine Haare in Form geföhnt, wenn sie mir von allein zu Berge standen? „Äh, ja.“ Galant griff der Vampir, der hinter mir stand, an mir vorbei. Er zog die Tür auf, als wäre sie nichts weiter als ein dünnes Papierschnipselchen. Mit rasendem Herzen stotterte ich ein verlegenes Danke und wollte mich schleunigst aus dem Staub machen – wozu ich nicht kam. Schneller als ich A sagen konnte, hatte er meine Taille umfasst. „Warst du diejenige, die vorhin hier rumgebrüllt hat?“ Ich? Wie kam er denn darauf? „Nein, ich wollte eigentlich auf Toilette. Muss mich wohl verlaufen haben.“ Sein leises Lachen kitzelte an meinem Ohr.
Er beließ es dabei und zeigte gönnerhaft auf eine weitere Tür – direkt gegenüber der mir geöffneten – über der eindeutige Schilder prangten. Schulterzuckend entfernte ich mich aus seiner Reichweite und ging demonstrativ zur Toilette. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb verweilte ich zehn Minuten in dem hellblau gekachelten Raum, wusch mir die Hände und prüfte, ob es möglich war, mein aufgewühltes Inneres zu beruhigen. Klappte nicht. Unverrichteter Dinge begab ich mich im Anschluss geradewegs zu Claudia.
Zu meiner Überraschung saß auch Trudi bereits wieder am Platz, was mich meinen Mund in schönster Karpfenoptik aufsperren ließ. Claudia schüttelte fast unbemerkt den Kopf, was wohl heißen sollte: Sage bloß nichts!
Ok.
Hauptsache, Trudi war wohlbehalten an den Tisch zurückgekehrt.
Tja, ich hatte mich in dem hinteren Bereich für nichts und wieder nichts zum Vollhorst gemacht und nebenbei fast vor Angst in die Hosen. Ganz zu schweigen von meinem medizinisch bedenklichen Herzrasen, was sich nur allmählich normalisierte. Kein Roman in unmittelbarer Sichtweite. Jetzt konnte ich mich wieder entspannen. Jedoch nicht, ohne Trudi vorher eine Predigt zu halten. Zu schade, dass die sich an rein gar nichts erinnerte und mich ansah, als wäre ich geistesgestört.
Claudias Erinnerung war jedoch intakt.
Nicht umsonst hatte sie mich mit stummem Blick gebeten, den Mund zu halten. Ich für meinen Teil war unendlich froh, dass Claudia vom Thema ablenkte und auf ihre Kinder zu sprechen kam. „Merkt ihr was?“ Trudi und ich sahen unsere Freundin fragend an. „Es kommt mir vor, als wären wir gestern noch zur Schule gegangen und jetzt rede ich von meinen Kindern und deren Schulproblemen. Wir werden alt. So sieht’s aus!“ Theatralisch sackte sie in sich zusammen und seufzte, als würde sie dafür eine Millionengage beziehen. Sehr effektvoll. Ich verkniff mir ein Lachen. Trudi schüttelte den Kopf. „Solange wir nicht so alt aussehen, wie wir uns manchmal fühlen, ist noch alles im Lot.“ Da war was dran. „Ach papperlapapp. Wir sind nicht mehr die knackfrischen, jungen Dinger, bei denen die Männer Schlange stehen.“ Trudi und ich erinnerten sie unisono daran, dass sie glücklich verheiratet war. „Oder hat sich daran etwas geändert?“, hakte ich nach, ignorierend, dass Claudia die Augen verdrehte. „Um Himmels Willen, nein! Aber es steigert das Selbstwertgefühl doch erheblich, wenn einem ein adretter, junger Mann hinterherpfeift.“ Mein Vorschlag, ihrem Sohn eine Trillerpfeife zu schenken, ließ sie empört schnauben. „Warte nur ab! Wenn du erst 10 Jahre verheiratet bist, wirst du ähnlich denken.“ Mein Grinsen konnte ich nicht mehr zurückhalten. „Dafür bräuchte ich zuallererst einen heiratswilligen Kandidaten.“ Die Blicke meiner Freundinnen gefielen mir nicht. Die planten etwas.
Ich konnte es förmlich riechen.
„Hey, stopp. Denkt nicht mal dran! Trudi zuerst.“ Die schüttelte langsam den Kopf, zog eine Augenbraue in die Höhe und schnalzte mit der Zunge. „Nichts da. Du bist die ältere von uns beiden.“ Die zwei Monate! Vehement wehrte ich ihre Vorschläge ab, dass sie mir einen Mann besorgen wollten. Ganz besonders, weil sie dies über Binghams Agentur, deren Geschäftsstellen im ganzen Land verteilt waren, durchzuziehen gedachten. „Untersteht euch! Ich bin weder scharf auf eine feste Beziehung noch auf eine Heirat.“ Vielleicht, sobald ich einigermaßen über Alan hinweg wäre. Sogar dann wäre es noch zu früh eine Ehe zu planen. Wenigstens hatte ich sie nach einer halben Stunde so weit, dass sie ihr Vorhaben ad acta legten.
Hoffte ich.
Aber so wie ich Claudia kannte… nein, ich sollte nicht darüber nachdenken. Davon bekäme ich nur graue Haare. Gerade, als ich mich wieder ein bisschen entspannte, entdeckte ich einige von Alans Leuten.
Schlagartig war meine gute Laune verflogen. An ihre Stelle trat eine düstere Zukunftsangst. Würden die es wagen, mich hier im Club anzugreifen?
Nach einer halben Stunde erkannte ich allerdings, dass sie sich nicht die Bohne für mich interessierten. Entweder das oder sie wollten mich in Sicherheit wiegen.
Eine weitere halbe Stunde später gestand ich mir zu, dass sie mich überhaupt nicht wahrnahmen. Vielleicht hatten die mich nicht erkannt?
Egal, ich hatte vor, mich mit meinen Freundinnen zu amüsieren, und genau das tat ich auch.
5
Die Quintessenz spürte ich am nächsten Morgen. Die Nacht war reichlich kurz gewesen. Als ich aufwachte, war mein Kopf zwar nicht sonderlich schwer oder meine Erinnerungen lückenhaft, aber meine Augen konnte ich trotzdem nur mit Mühe öffnen. Am liebsten hätte ich den Wecker gegen die Wand geworfen und mich zurück in mein Bett gekuschelt. Sofern ich das erste Klingeln nicht überhört hatte, hatte ich etwa zwei Stunden geschlafen. Ob es meiner Mutter wohl auffiel, wenn ich mir Streichhölzer in die Augen steckte, um diese offen zu halten?
Schätzungsweise … ja.
Wie war ich nur auf die blöde Idee gekommen, mich bei meinen Eltern einzuladen, obwohl ich wusste, dass ein Frauenabend ganz schön lang dauern konnte?
Ich sollte absagen.
Müde schlurfte ich ins Bad, beäugte die Dusche, winkte ab, warf mir kaltes Wasser ins Gesicht, putzte meine Zähne, kämmte meine Haare und streckte meinem höllisch attraktiven Spiegelbild – sofern man auf Zombies stand – die Zunge heraus. Etwas munterer, aber bei weitem noch nicht munter genug, schlurfte ich zurück ins Schlafzimmer. Dort pellte ich mich antriebslos aus meinem Schlafshirt, schlüpfte mit halb geschlossenen Augen in meine Klamotten und wäre um ein Haar panisch kreischend unter mein Bett gekrochen.
Nicht nur wegen meiner Müdigkeit hielt sich meine Begeisterung, Roman mit verschränkten Armen vor mir stehen zu sehen, in Grenzen. „Mein Vater will mit uns beiden sprechen. Ich bin hier, um dich abzuholen.“, erläuterte er überaus erhaben. Dass ich beinah einen Herzinfarkt bekommen hätte, war ihm schnurzpiepegal.
Mir aber nicht, verdammt nochmal!
„Es hätte gereicht, wenn Steward mich anruft. Ich finde auch allein zu seinem Anwesen.“ Nachdem ich bei meiner Mutter abgesagt hätte. „Wie lange stehst du schon hier?“ Roman zeigte keine Regung. „Lang genug.“ Einfach fantastisch. Das hieß, ich hatte einen Strip vor ihm hingelegt.
Einen ziemlich bemitleidenswerten.
Eine Gänsehaut rieselte über meinen Rücken. Roman stand nur zwei Meter von mir entfernt. Unbeweglich wie eine Statue. Atmete er überhaupt? Schluckend wich ich