»Ja, mein lieber, lieber Vater!«
Ich sah, daß ihre Augen feucht zu werden begannen.
»Ich denke,« fuhr er fort, an den »hundertunddritten [»an den hundertunddritten] Psalm und an das erste Kapitel des
Buches an die Hebräer; es kann auch der hundertundvierte Psalm sein; ich weiß es nicht genau. Dort steht geschrieben:
»Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen.« Steht kein Name auf dem Blatte? Keine
Seitenzahl? Gar nichts, woraus man schließen könnte, wem oder wohin es gehört?«
»Gar nichts, Vater.«
»So dürfen wir es also als unser Eigentum betrachten und wollen es aufheben für - - für spätere Zeit, wo wir es
vielleicht brauchen.«
»Willst du es haben?«
»Nein; behalte es! Und wenn - - wenn - - - wenn ich wieder einmal lieblos von denen spreche, die ich Heiden nenne,
so sage mir die beiden letzten Zeilen: Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus, so stehe es für Euch im Völkerfrieden. Ich
denke, das wird gut für Etwas sein, was in mir ist, was siegen will und doch nicht siegen kann.«
Es trat wieder eine Pause ein, nach welcher Mary die Vermutung aussprach:
»Der Verfasser ist wahrscheinlich ein Deutscher. Und weil ich das Blatt innerhalb der Vorstufen zum Hotel fand, so
nahm ich an, daß er hier wohnt und es im Kommen oder Gehen draußen verloren hat. Ich erkundigte mich darum vorhin
bei meiner Rückkehr im Bureau, ob vielleicht ein deutscher Dichter hier logiere, und habe eine verneinende Antwort
erhalten.«
»Mag der, welcher es geschrieben hat, sein, wer und was er sei, er wird den kleinen Verlust entweder aus dem
Konzepte oder aus dem Gedächtnisse leicht wieder ersetzen können. Er bekommt das Blatt nicht wieder, und selbst
wenn er mir bekannt wäre, würde ich ihn bitten, es behalten zu dürfen. Ob die Zeilen als Gedicht gut sind, das weiß ich
nicht; ich bin kein Kritiker; aber der Inhalt ist für mich von Wert, und im Ausdruck liegt Etwas, dem ich nicht widerstehen
kann. Ich bin so alt geworden und habe doch nie und nicht gewußt, wie sich ein schönes, liebes, reines, klares Wort so
schnell und tief ins Herz hinunterheimeln kann! Und Eins noch ists, was ich dir sagen muß, mein Kind.«
Aber er sagte es noch nicht, sondern er legte, das Gesicht seiner Tochter zugewendet, den Ellbogen auf den Tisch,
den Kopf in die Hand, sah sie liebevoll prüfend an, machte dann die Augen zu, als ob er sich etwas zu vergegenwärtigen
habe, und sprach erst hierauf weiter:
»Du bist deiner Mutter so überaus ähnlich, äußerlich und innerlich, und das hat mich über ihren Verlust, wenn auch
nicht beruhigt, aber doch getröstet. Sie ist mein Engel gewesen, und du glaubst ja, daß sie heut ebenso wie früher bei uns
weilt. Ich weiß, daß ich ein streitbarer Theologe bin, vielleicht streitbarer, als die Bibel will, und es ist stets das
Hauptbestreben der Toten gewesen, dieses mein aggressives Wesen zu mil- mildern. Sie warnte mich vor China, und als
ich trotzdem meine Absicht, dorthin zu gehen, nicht aufgab, trübte sich die Zeit, welche, für uns so schrecklich unerwartet,
die letzte ihres Lebens sein sollte. Als ich an ihrem Todestage zum letzten Male mit ihr allein war, - du hattest draußen mit
dem Arzt zu sprechen - mußte ich ihr die Erfüllung ihres Abschiedswunsches geloben. Ich tat es, indem ich ihre Hand in
die meine nahm, und dann sprach sie ihn aus: »Sei stets ein echter Christ, und halte Frieden!« Und nun trägt heut der
Wind dir fast genau dieselben Worte zu! Deine Stimme gleicht der ihrigen, und als du vorhin diese Zeilen lasest, da
tauchte plötzlich ihr Sterbezimmer vor mir auf und - - -«
Weiter hörte ich nichts, oder vielmehr weiter wollte ich nichts hören. Die anderen Gäste saßen drin im eigentlichen
Saale und wir, durch Säulen von diesem getrennt, allein im Seitenraum; sie brauchte er also nicht zu beachten. Aber mein
Tisch stand dem seinen so nahe, daß ich seine Worte hören mußte, wenn ich auch nicht wollte. Mochte er mich nun
wirklich für einen Franzosen halten, der nicht deutsch verstand, oder galt ich als Fremder faktisch für ihn als gar nicht
vorhanden, jetzt durfte mir das nicht mehr gleichgültig sein. Er berührte eine Angelegenheit von solcher Diskretion, daß es
mir meine Pflicht verbot, noch länger zuzuhören. Ich stand also auf und ging, wobei ich zu meiner Genugtuung bemerkte,
daß er nicht die mindeste Notiz davon nahm.
Hatte ich gestern gemeint, daß er vielleicht ein ganz guter Mensch sei, so war mir dieses Vielleicht jetzt zur Gewißheit
geworden. Nur wohnte und wirkte leider ein Dämon in ihm, der ihn selbst um den Frieden brachte, den er Andern doch so
gern geben wollte; er hatte ihn ganz richtig als Agressivität [Aggressivität] bezeichnet. Dieser Teufel ist es, der Menschen,
Korporationen und Völker immer vorwärts drängt, um neuen Raum zu gewinnen, dabei aber auf dem alten,
wohlerworbenen keinen Frieden und keinen Segen aufkommen läßt!
Während des Mittagessens wurde es mir nicht schwer gemacht, diskret zu sein, denn meine Nachbarn sprachen
außerordentlich wenig. Später bemerkte ich von meinem Fenster aus, daß sie einen Hotelwagen bestiegen, um den
beabsichtigten Ausflug zu unternehmen.
Punkt drei Uhr klopfte Sejjid Omar an meine Tür. Die Pferde wurden schon bereit gehalten; wir konnten aufbrechen.
Natürlich beobachtete ich ihn schon beim Aufsteigen. Das ging so leicht und glatt vonstatten, als ob es seine tägliche
Gewohnheit sei. Auch hielt er sich eine volle Pferdelänge hinter mir, was ich dadurch belohnte, daß ich ihn aufforderte, an
meine linke Seite heranzukommen. Ich konnte ihn doch nicht beobachten, wenn ich ihm vorausritt. Er hielt sich nun still und
ruhig neben mir, ohne, was ein Anderer wahrscheinlich versucht hätte, mir zeigen zu wollen, daß er sein Pferd zu
beherrschen verstand. Doch wurde, als wir uns dem Kasr en Nil näherten, der Straßenverkehr trotz der Hitze ein so
lebhafter, daß ich leicht Gelegenheit fand, ihn, ohne daß er es bemerkte, auf die Probe zu stellen. Die uns begegnenden
Wagen, Reiter, Kamele und Fußgänger bildeten mir willkommene Hindernisse, und ich wich ihnen in einer Weise aus,
welche es einem mittelmäßigen oder gar schlechten Reiter sehr schwer gemacht hätte, nicht von mir abzukommen; er
aber überwand diese Schwierigkeiten, ohne daß er sie zu bemerken schien.
Nachdem wir die Nilbrücke passiert hatten, ging es im Trab. Er saß wie angegessen. Jenseits des Mu- Museums, als
wir das bekannte Eckcaf‚ hinter uns hatten, mußten wir wieder langsam reiten, denn es begegneten sich da zwei Reihen
aneinander gebundener Lastkamele, zwischen denen, gerad als ein Doppelwagen der Tramway von Gizeh kam, sich
eine Schar schwatzender Fellachenfrauen befand, welche Körbe auf ihren Köpfen trugen. Das gab wahrscheinlich einen
kritischen Augenblick.
Wie gedacht, so geschehen! Die Tramway erschreckte die Kamele; sie blieben stehen; das