Mitternacht war vorbei, als er am Bettrand niedersaß.
Er dachte nicht ans Schlafen. angekleidet legte er sich hin, nur weil ihn, wahrscheinlich vom vielen Bücken, der Rücken schmerzte. Er dachte noch einigemal: Wohin? und sagte laut: »Wenn man sich wirklich lieb hat...«
Die Uhr tickte. Tief unten fuhr ein Wagen vorbei, und die Scheiben zitterten davon. Die Uhr, die noch von den Zwölfschlägen müde war, atmete auf und sagte mühsam »Eins«. Mehr konnte sie nicht.
Und Fritz hörte es noch wie aus weiter Ferne und dachte:,Wenn man, sich ... wirklich...
Aber im allerersten Morgengrauen saß er fröstelnd in den Kissen und wußte bestimmt: Ich mag Anna nicht mehr. Sein Kopf war so schwer: Ich mag Anna nicht mehr. War das ihr Ernst? Um ein paar Schläge auf und davon laufen. Wohin denn? Er sann nach, als hätte sie's ihm anvertraut: Wohin wollte sie denn? Irgendwohin, irgendwohin. Er empörte sich: Und ich? Ich sollte natürlich alles im Stiche lassen, meine Eltern und – alles. Oh und die Zukunft, das Hernach. Wie dumm das war von Anna, wie häßlich. Ich möchte sie schlagen, wenn sie das imstande wäre.
Wenn sie das imstande wäre.
Als ihm die frühe Maisonne, so recht hell und heiter, in die Stube kam, hoffte er: Sie kann es nicht ernst gemeint haben. Er beruhigte sich ein wenig und hatte viel Lust, im Bett zu bleiben. Allein er sagte sich: Auf den Bahnhof will ich gehen, und sehen, daß sie nicht kommt. Und er malte sich die Freude aus, wenn Anna nicht kommt.
Fröstelnd in der frühen Frische und mit großer Müdigkeit in den Knien ging er auf den Bahnhof. Die Vorhalle war leer.
Halb ängstlich, halb hoffnungsvoll hielt er Umschau. Keine gelbe Jacke. Fritz atmete auf. Er durchlief alle Gänge und Säle. Reisende gingen verschlafen und teilnahmslos auf und nieder, Gepäcksdiener lümmelten an hohen Säulen, und Leute aus der untersten Klasse saßen verdrossen, an Bündel und Körbe gelehnt, auf staubigen Fensterbänken. Keine gelbe Jacke. Der Portier rief irgendwo in einem Wartesaal Ortsnamen. Er läutete mit einer schrillen Glocke. Dann schnarrte er dieselben Ortsnamen ganz nah und dann noch einmal auf dem Bahnsteig. Und immer läutete davor die häßliche Glocke. Fritz wandte sich und schlenderte, die Hände in die Taschen bohrend, in die Vorhalle des Bahnhofes zurück. Er war sehr zufrieden und dachte mit Siegermiene: Keine gelbe Jacke. Ich wußte es ja.
Wie im Übermut trat er hinter eine Säule. Er wollte den Fahrplan studieren, um zu erfahren, wohin denn dieser verhängnisvolle Sechsuhrzug eigentlich fahre. Er las mechanisch die Stationen und machte ein Gesicht wie einer, der eine drollige Treppe besieht, auf der er fast gestürzt wäre. Da klappten schnelle Schritte auf den Fliesen. Als Fritz ausschaute, erhaschte sein Blick eben noch an der Perrontüre die kleine Gestalt in der gelben Jacke und dem Hute, auf welchem eine Rose schwankte.
Fritz starrte ihr nach.
Dann überkam ihn eine Furcht vor diesem schwachen Mädchen, welches mit dem Leben spielen wollte. Und als bangte er, sie könnte kommen, ihn finden und ihn zwingen, in die fremde Welt zu fahren, raffte er sich auf und lief, so schnell er konnte, ohne sich umzusehen, der Stadt zu.
Heiliger Frühling
Skizze
Unser Herrgott hat sonderbare Kostgänger.« Das war das Lieblingswort des Studenten Vinzenz Viktor Karsky, und er wandte es in passenden und unpassenden Augenblicken stets mit einer gewissen Überlegenheit an, vielleicht weil er sich selbst im Stillen zu dieser Sorte rechnen mochte. Seine Genossen nannten ihn längst einen sonderbaren Kauz; sie schätzten seine Herzlichkeit, die oft an Sentimentalität grenzte, freuten sich an seinem Frohsinn, ließen ihn einsam, wenn er traurig war, und duldeten seine ›Überlegenheit‹ mit gutmütigem Vergeben.
Diese Überlegenheit Vinzenz Viktor Karskys bestand darin, daß er für Alles, was er tat oder unterließ, einen glänzenden Namen fand und, ohne zu prahlen, mit einer gewissen gereiften Sicherheit Tat auf Tat legte, wie einer, der aus tadellosen Steinen eine Mauer baut, die für alle Ewigkeit stehen soll. Nach einem guten Früstück sprach er gerne über Literatur, wobei er niemals tadelte oder verwarf, sondern nur die ihm angenehm Bücher einer mehr oder minder innigen Anerkennung würdigte. Das klang dann wie eine allerhöchste Sanktion. Bücher, die ihm schlecht schienen, pflegte er überhaupt nicht zu Ende zu lese, sagte aber dann auch kein Wort darüber, selbst wenn andere des Lobes voll waren.
Sonst hielt er sich gegen die Freunde nicht zurück, erzählte alle seine Erlebnisse, auch die intimer Art, mit liebenswürdigem Freimut und ließ es über sich ergehen, daß sie fragten, ob er nicht wieder versucht hätte, ein Protelarierkind ›zu sich emporzuheben‹. Man erzählte sich nämlich, daß Vinzenz Viktor Karsky bisweilen solche Versuche unternehme. Dabei mochten ihm seine tiefen blauen Augen und seine einschmeichelnde Stimme wohl zu gar manchem Erfolge verhelfen. Immerhin schien er die Zahl dieser Erfolge rastlos mehren zu wollen und bekehrte mit dem Eifer eines Religionsstifters eine Unzahl kleiner Mädchen zu seiner Glückseligkeitstheorie. Am Abend begegnete ihm ab und zu einer der Genossen, wenn er, eine blonde oder braune Gefährtin leicht unter dem Arm führend, seines Lehramts waltete. Und die Kleine lachte dann gewöhnlich mit dem ganzen Gesicht, Karsky aber machte eine so wichtige Miene, als wollte er sagen: »Unermüdlich im Dienste der Menschheit.« Kam aber mal einer und erzählte, daß der oder jener »hängen geblieben« wäre und nun in die nette Sippschaft hinein heiraten müsse, wippte der erfolggekrönte Wanderlehrer seine breiten, slawisch-eckigen Schultern und sagte fast verächtlich:
»Ja, ja, – der Herrgott hat sonderbare Kostgänger.«–
Das Sonderbarste an Vinzenz Viktor Karsky aber war, daß es Etwas in seinem Leben gab, wovon keiner seiner nächsten freunde wußte. Er verschwieg es gleichsam vor sich selbst; denn er hatte keinem Namen dafür; und doch dachte er daran, sommers, wenn er einsam auf weißem Weg in einen Sonnenuntergang ging, oder wenn der Winterwind sich in den Kamin seiner stillen Stube bohrte und die Kerntruppen der Schneeflocken gegen das verklebte Fenster Sturm liefen, oder im dämmerigen Kneipstübchen sogar mitten im Freundeskreis. Dann blieb das Glas unberührt vor ihm stehen; er schaute wie geblendet vor sich hin, als blicke er in ein fernes Feuer, und seine weißen Hände falteten sich unwillkürlich, als wäre ihm ein Beten gekommen – ganz von ungefähr, wie einem das Lachen oder das Gähnen kommt.
Wenn der Frühling in eine kleine Stadt einzieht, so gibt das ein Fest. Wie die Knospen aus enger Haft, drängen goldköpfige Kinder aus der winterschwülen Stube und wirbeln ins Land hinaus, als trüge sie der flatternde laue Wind, der ihnen Haare und Röckchen zerrt und ihnen die ersten Kirschenblüten in der Schoß wirft. Und wie sie nach langer Krankheit ein altes, lang vermißtes Spielzeug bejubeln würden, erkennen sie selig Alles wieder und begrüßen jeden Baum, jeden Busch und lassen sich vom jauchzenden Bache erzählen, was er all die Zeit getrieben. Und was für eine Wonne ist das, durch das erste grüne Gras laufen, das zage und zart die nackten Füßchen kitzelt, dem ersten Weißling nachhüpfen, der in ratlos großen Bogen über den kargen Holunderbüschen sich verliert ins endlose, blasse Blau hinein. – Überall regt sich Leben. Unterm Dach, auf den rotleuchtenden Telegraphendrähten und sogar hoch auf dem Kirchturm, hart neben der brummigen, alten Glocke, ist Schwalben-Stelldichein. Die Kinder schauen mit großen Augen, wie die Wandervögel die alten lieben Nester finden, und der Vater zieht den Rosenstöcken den Strohmantel und die Mutter den ungeduldigen Kleinen die Warmen Flanellhöschen aus.
Auch die Alten kommen mit scheuem Schritt über die Schwelle, reiben sich die faltigen Hände und blinzeln ins flutende Licht hinaus, und nennen sich »Alterchen« und wollens nicht zeigen, daß sie glücklich und gerührt sind. Aber ihre Augen gehen über, und sie danken beide im Herzen: Noch einen Frühling.
An solch einem Tag ohne eine Blume in der Hand auszugehen, ist Sünde, dachte der Student