Als die Fahrstuhltüren sich öffneten, trat ich unsicher heraus und zog meinen Schlüssel aus der Tasche. Ich steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum. In der Wohnung herrschte eine bedrückende Stille. Mit zitternden Fingern schloss ich die Tür hinter mir, stellte die Tasche im Flur ab und ging ins Wohnzimmer.
Devon saß auf der Couch, die Arme auf die Knie abgestützt und die Hände ineinander gefaltet. Als er aufsah, traf mich sein Blick wie ein Messerstich und mein Herz machte einen panischen Aussetzer. Eingeschüchtert blieb ich im Türrahmen stehen und versuchte seinen Blick zu erwidern.
»Wie heißt er?«, fragte Devon und ich schluckte schwer. Wusste er etwa von Liam? Als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, sprach Devon weiter: »Ich bin mir nicht sicher, was ich von dieser Situation halten soll. Am Wochenende streiten wir noch darüber, dass du nicht nach Berlin willst und kurz darauf kommst du über Nacht nicht nach Hause. Willst du mich provozieren oder versuchst du, deine Grenzen auszutesten, Nele? Du musst mir das nämlich sagen, weil ich es nicht verstehe.«
Ich ging auf Devon zu und setzte mich unsicher neben ihn auf die Couch.
»Ich war im Sicherungsraum der Bibliothek eingesperrt, weil die Klinke abgebrochen ist«, sagte ich, doch meine Stimme war so dünn und brüchig, dass ich mir beinahe selbst nicht glaubte.
»Lächerlich!«, schrie Devon unkontrolliert und ich zuckte zusammen. »Ich war bei der Bibliothek und es war alles dunkel und verschlossen.«
»Devon, ich … ich musste die Türen abschließen und dann die Hauptsicherung ausschalten, bevor ich gehen konnte.«
»Ginger schließt immer selbst ab. Hör auf zu lügen. Ich muss mich gleich übergeben!«
»Ginger musste gestern eher gehen. Bitte, ruf sie an und frag sie. Sie hat mich gerade erst …«
»Du sollst deinen verlogenen Mund halten!« Devon stand auf und packte mich am Arm. Er zog mich grob ins Bad und schleuderte mich hinein. Ich verlor das Gleichgewicht und krachte gegen das Waschbecken, das sich schmerzhaft in meine Hüfte rammte. Ich schnappte schwer atmend nach Luft und kämpfte gegen den Drang an zu weinen. »Für wie dumm hältst du mich? Meinst du, ich rieche das Parfüm nicht? Geh dich duschen, verdammt! Du stinkst nach diesem Bastard.«
Ich stützte mich schwach auf dem Waschbeckenrand ab und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. An Liams Parfüm hatte ich nicht gedacht. Ich hätte mich niemals an ihn lehnen dürfen.
»Du musst Ginger anrufen, bitte«, flehte ich wieder und sah ihn aus tränennassen Augen an. »Sie …«
Devon kam auf mich zu und riss an meiner Strickjacke.
»Ich habe gesagt, du sollst dich duschen!« Er packte mich wieder, zog mich lieblos in die Dusche, wo ich schwach auf die Knie sank. Rasend vor Wut drehte er das Wasser auf und achtete überhaupt nicht darauf, dass ich noch alle Sachen trug. »Wenn ich wiederkomme, bist du fertig!«
Die Badezimmertür fiel mit einem lauten Krachen ins Schloss und mein Körper entspannte sich etwas. Das eiskalte Wasser prasselte schonungslos auf mich herab und durchnässte mich innerhalb von Sekunden. Ich legte den Kopf an die kühlen Fliesen und schluchzte. Devons Reaktion war noch harmlos ausgefallen, doch ich glaubte nicht, dass er mit mir schon fertig war.
Im Sitzen begann ich die nassen Sachen von meinem Körper zu schälen und stand schließlich auf. Die Stelle, an der ich an das Waschbecken gestoßen war, war augenblicklich rot geworden. Mit zitternden Fingern strich ich darüber und warf anschließend noch einen Blick auf den Bluterguss an meinem Arm. In ein bis zwei Tagen würde man ihn wohl nur noch ganz schwach wahrnehmen können.
Nachdem ich mich wie in Trance gewaschen hatte, stellte ich das Wasser ab und stieg aus der Dusche, wo ich mich in ein großes Handtuch einwickelte und regungslos stehen blieb. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann ging die Tür auf und Devon baute sich wieder bedrohlich vor mir auf. Er sah mir ausdruckslos in die Augen, doch ich konnte diesem Blick nicht standhalten.
»Sieh mich an«, zischte er und ich zwang mich aufzusehen. »Ich habe dir alles gegeben, was du brauchst. Dir hat es bei mir nie an etwas gefehlt. Und trotzdem meinst du, mich verarschen zu müssen, du kleine, dumme Göre.«
Ich schluckte schwer und wich seinem Blick wieder aus.
»Du sollst mich ansehen!« Devon packte mein Gesicht und drückte meinen Kiefer fest zusammen. »Hat es dir diese Nacht wenigstens Spaß gemacht? War er gut? Und war er diesen ganzen Stress wert?«
»Ich habe nicht …«, sagte ich gequält und Devon verstärkte den Druck auf mein Gesicht. »Ginger … sie … bitte.«
»Wahrscheinlich würde dir diese Frau jedes Alibi geben, das du brauchst. Pah.« Devon ließ von meinem Kiefer ab und gab mir in der gleichen Sekunde eine schallende Ohrfeige, die meinen Kopf heftig zurückriss. Ich schloss die Augen und kämpfte dagegen an, laut aufzuschluchzen, doch die Tränen suchten sich unaufhaltsam ihrem Weg.
»Zieh dich an. Ich geh ins Büro.« Devon wandte sich von mir ab und verschwand. Ich hörte, wie er sich anzog und schließlich die Wohnung verließ.
Ich versuchte, ruhig zu atmen und das Zittern in meinem Körper zu ignorieren, aber es gelang mir nur mühsam. Ich zog mir trockene Sachen an und föhnte gedankenverloren meine Haare. Wieder befand ich mich in einer dieser Trancephasen, wie ich sie selbst nannte. Mein Körper funktionierte beinahe mechanisch, ohne dass ich mich anschließend daran erinnerte, was ich in diesen Phasen getan oder gedacht hatte. Dann verließ ich das Bad und ging ins Wohnzimmer, wo ich mich auf die Couch setzte und mehrere Minuten an die leere, weiße Wand hinter dem Fernseher starrte. Meine Hände hatte ich im Schoß gefaltet, in der Hoffnung, dass sie nicht länger unkontrolliert zittern würden. Doch es half alles nichts. Mein gesamter Körper reagierte über und die Unruhe fraß sich langsam aber beständig von innen nach außen.
Plötzlich war es, als hätte man mir einen Schlag verpasst und ich kam ruckartig zu mir. Ich legte die Hand auf meine schmerzende, geschwollene Wange und sah mich um. Schnell ließ ich die Hand sinken und sprang auf. Ich nahm mein Handy und rannte von Panik getrieben zur Haustür. Er hatte mich wieder geschlagen. Ich musste von hier verschwinden. Die Chance konnte ich nicht verstreichen lassen. Ich musste zu meinem Bruder, der mir Schutz bieten konnte, oder zu Liam, der mich einfach in den Arm nehmen würde.
Ich wollte die Haustür aufreißen, als mir klar wurde, dass sie verschlossen war. Ich drückte die Klinke wieder und wieder und sah zum Schlüsselbrett. Devon hatte sowohl seinen als auch meinen Schlüsselbund mitgenommen. Weil ich hoffte, mich zu irren, rannte ich ins Bad und durchsuchte meine nasse Hose und anschließend meine Tasche. Doch mein Schlüssel war weg. Im Flur sank ich weinend auf die Knie und schlug mit der Faust wütend auf den Fußboden.
»Nein, nein …«, weinte ich und die Tränen tropften vor mir auf den Boden. Die Erkenntnis, dass Devon mich in der Wohnung eingeschlossen hatte und ich keine Chance hatte, sie zu verlassen, kam einem weiteren Schlag ins Gesicht gleich. Auch wenn ihm zuvor bereits mehrmals die Hand ausgerutscht war, so hatte er mich doch noch nie meiner Freiheit beraubt. Doch wahrscheinlich ahnte er, dass ich langsam an einen Punkt kam, an dem ich mit dem Gedanken spielte, ihn zu verlassen. Ich wusste, dass das auch die einzige Möglichkeit war, mich zu retten, doch bislang hatte ich ihm immer wieder geglaubt, wenn er versprach, sich zu ändern. Vielleicht war es die Verwunderung darüber, wie Liam mich behandelt hatte, die mir zeigte, dass es auch noch ein anderes Gefühl als Angst gab, das ich im Umgang mit einem Mann empfinden konnte. Ich wusste nicht, was mir auf einmal den kleinen Funken Mut geschenkt hatte, einfach davon zu laufen. Doch ich klammerte mich so fest an die Vorstellung, dass es Liam war, dass ich mich in diesem Moment ärgerte, keine Nummern mit ihm ausgetauscht zu haben.
Je länger ich auf dem Fußboden im Flur saß und bittere Tränen weinte, desto schneller verließ mich auch der Mut. Es brachte nichts, auf den Boden oder die Tür einzuschlagen, und wahrscheinlich brachte es auch nichts, wegzulaufen.