Ich schüttelte den Kopf. Als ich noch kleiner gewesen war, hatte mein Bruder ständig Freunde mit nach Hause gebracht, doch es fiel mir schwer, alle auseinanderzuhalten. Als Leon alt genug war, trafen sich die Jungs oft in der Stadt und so verschwanden die wenigen Namen und Gesichter, die ich mir gemerkt hatte, aus meinem Gedächtnis.
»Er hat eine Band, die zumindest in ihrer Szene seit Jahren sehr bekannt ist. Hier kennt sie wahrscheinlich niemand, aber hast du nicht auch mal Heavy Metal gehört?«
»Das ist ewig her. Es gab nur ein - zwei Bands, die ich richtig gut fand.«
»Gehörten LiveLoud nicht dazu?«, zwinkerte Leon mir zu.
Meine Augen weiteten sich erschrocken und ich öffnete die Lippen leicht. Tatsächlich war LiveLoud eine meiner Lieblingsbands gewesen. Ehrlicher Heavy Metal, bei dem der Sänger nicht nur wahllos ins Mikrofon brüllte, sondern mit seinen Songs eine Botschaft vermitteln wollte.
»Seit wann kennst du den Frontmann von LiveLoud?«, stammelte ich und schluckte schwer, als ich bemerkte, dass sich auf der Bühne etwas tat.
»Wir sind in eine Klasse gegangen, Schwesterlein. Du hast ihn mit drei Jahren sogar mal dazu genötigt, mit deinen Barbies zu spielen, als er bei uns zu Besuch war. Wir haben uns dann irgendwann aus den Augen verloren, als seine Familie umgezogen ist. Seit ein paar Jahren lebt er mit der Band wieder in London, seine Eltern soweit ich weiß auch. Wir haben uns, so blöd es klingt, zufällig beim Einkaufen getroffen.«
»Verdammt«, flüsterte ich und mein Herz schlug plötzlich unaufhörlich schnell. Liam Drake war meine wahr gewordene Fantasie eines Traummannes, seit ich mit sechzehn Jahren zum ersten Mal auf die Band aufmerksam geworden war. Gedankenverloren dachte ich an sein dunkles, wildes Haar, die braunen, ausdrucksstarken Augen und seine markant männlichen Gesichtszüge. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie trainiert und muskulös sein Körper in den schwarzen Muscle-Shirts ausgesehen hatte, die Arme mit Tattoos bedeckt, die Muskeln beim Gitarre spielen angespannt. Wie hatte mir nur die Tatsache entgehen können, dass er mit meinem Bruder in eine Klasse gegangen war?
Plötzlich erklangen die ersten Töne eines Gitarren-Solos und ich fuhr sofort zur Bühne herum. Im Licht des Scheinwerfers stand Liam und sah lächelnd in die Menge, die sich vor der Bühne aufbaute. Ich schluckte schwer. Er sah noch besser aus, als vor fünf Jahren. Männlicher, stärker und unerreichbarer als jemals zuvor. Schnell schüttelte ich den Kopf über meine Gedanken und dachte daran, was Devon mit mir machen würde, wenn er diese hören könnte. Ein Schauer erfasste meine Glieder.
»Na los, geh schon zur Bühne. Ich kann ihn dir später vorstellen, wenn du möchtest«, sagte Leon und zwinkerte mir zu.
Ich atmete noch einmal tief durch und ging dann in Richtung Bühne. Da ich mich nicht zwischen den anderen durchdrängeln wollte, blieb ich weit hinten stehen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, sicherte den Cocktail in einer Hand und fixierte Liam mit meinem Blick. Er säuselte gerade eine ruhige Stelle in das Mikrofon. Gänsehaut überzog meinen Körper, als er die Augen öffnete und genau in die meinen zu blicken schien. Ich hielt die Luft an und traute mich erst wieder zu atmen, als er den Blick, unendlich lange Sekunden später, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen abwandte.
Schnell drehte ich mich um und suchte nach einem ruhigen Platz, von wo aus ich zwar einen guten Blick auf die Bühne hatte, aber dennoch nicht Gefahr lief, so einen Moment noch einmal erleben zu müssen. Plötzlich war ich verunsichert und fühlte mich unwohl.
Ich fand einen Platz rechts neben der Bühne, wo einige Biertisch-Garnituren verwaist herumstanden. Ich hielt den Cocktail in den Händen, die merklich begonnen hatten zu zittern, nachdem ich mich gesetzt hatte. Die Bühne hatte ich nach wie vor fest im Blick, doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, hierherzukommen.
** Liam **
Als ich die Bühne betrat, durchströmte mich Adrenalin. Ich hing mir meine rote E-Gitarre um und warf einen ersten Blick in die Zuschauermenge, die sich bereits eingefunden hatte. Zufrieden mit dem, was ich sah, ging ich zum Mikrofon-Ständer, richtete das Mikro und schloss die Augen. Wie vor jedem Auftritt atmete ich noch einmal tief durch und begann dann mit meinem Gitarren-Solo. Ich öffnete die Augen wieder und machte routinierte Griffe an den Saiten. Von meinem Solo leitete ich zum ersten Song über und meine drei Bandkollegen setzten mit ein. Die Stimmung war gut, die Menge schrie ungeduldig. Losgelöst riss ich die Faust in die Höhe, bevor ich die ersten Worte sang.
Als ich Leon zugesagt hatte, auf seiner Geburtstagsparty zu spielen, hatte ich mit weitaus weniger Publikum gerechnet. Aber Leons Gäste hätten ohne Probleme einen kleinen Konzertsaal füllen können.
Ich umfasste mit beiden Händen das Mikrofon und legte jedes meiner Gefühle in die ruhige Stelle des Songs. Erneut schloss ich die Augen, um die Empfindungen noch besser in mich aufzunehmen und sie rüberbringen zu können. Ich öffnete sie wieder leicht und auf einmal sah ich sie. Mein Herz setzte kurz aus. Sie stach zwischen den anderen heraus. Es war ihr Blick. Ihre wunderschönen, traurig wirkenden Augen, die mir den Verstand raubten und mich für einen kurzen Moment aus dem Konzept brachten. Die Art, wie sie mich ansah, war besonders. Als ich merkte, dass sie den Blick nicht einfach von mir abwenden würde, lächelte ich und blickte in die andere Richtung.
Heimlich wollte ich sie noch einmal ansehen, doch sie war verschwunden. Irritiert kniff ich die Augen zusammen, während die Worte fast mechanisch über meine Lippen kamen. Ein Gefühl von Sorge zog durch meine Gedanken, als ich ihren fast niedergeschlagenen Blick erkannte, mit dem sie sich auf eine Bank in einer dunklen Ecke zurückzog.
Und als ich leise in das Mikrofon sang: »What happend to you?«, fragte ich mich das tatsächlich.
Was ist dir passiert?
4. Rückzug
** Nele **
Die Band spielte eine Stunde, versprach aber nach einiger Zeit ein zweites Mal auf die Bühne zurückzukehren und noch weitere Songs zu spielen. Ich saß mittlerweile bei meinem dritten Cocktail in meiner einsamen Ecke und überblickte die Party meines Bruders. Alle feierten ausgelassen, tranken viel und lachten laut, doch mir wurde das alles zu viel. Immer wieder fragte ich mich, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war herzukommen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, zu Hause zu bleiben, sich eine Tasse Tee zu kochen und in der Geschichte eines guten Buches zu versinken.
Seufzend wandte ich mich von der Bühne ab, schwang die Beine unter den Tisch und stützte meine Arme auf der Tischplatte ab. Ich nippte an meinem Cocktail, dessen Alkohol bereits ein herrlich benommenes Gefühl in meinem Körper auslöste, und rieb mir dann mit den Händen die müden Augen. Ich war so schrecklich erschöpft. Die letzten Wochen hatten mich ausgelaugt und mir beinahe jede kleine Kraftreserve genommen. Doch ich musste kämpfen, den Schein aufrechterhalten, zumindest so lange, bis ich wieder zu Hause war. Erst dann würde ich die Maske fallen lassen können. Ich senkte die Arme wieder und hob den Kopf kaum merklich, als in diesem Moment eine dunkle, attraktive Stimme fragte: »Darf ich mich zu dir setzen?«
Erschrocken sah ich zur Seite und blickte in tiefdunkle Augen, die mich fasziniert ansahen. Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich Liam und stützte lässig einen Arm auf dem Tisch ab.
»Unsere Musik ist nicht unbedingt deine Richtung, oder?«, fragte er. Offenbar konnte er sich mein plötzliches Verschwinden nicht anders erklären. Wenn er nur wüsste, wie falsch er mit seiner Annahme lag.
»Wie kommst du darauf?«
»Du