Das Eisenzimmer. Markus Ridder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Ridder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738058857
Скачать книгу
dabei waagerecht vorstellen, nur auf diese Weise konnte sie ja auch zwischen den beiden Rippen hindurch stoßen. Hätte er vertikal und von oben attackiert, wäre der Dolch am Brustkorb abgeprallt.“

      Instinktiv hatte Jenny ihre Hand an die Brust gelegt. Als Isenbarth seine Vorstellung beendet hatte und sich den Kittel glatt strich, hielt sie die Taschenlampe plötzlich selbst in der Hand und an sich gedrückt. „Das heißt, er hat sich vorher Gedanken gemacht, wie er zustechen muss, und quasi die beste Möglichkeit gewählt, um sein Opfer mit einem Stich umzubringen.“

      Isenbarth wippte mit dem Oberkörper von links nach rechts, als wiege er den vorgebrachten Gedanken ab. Er legte einen behandschuhten Finger ans Kinn. Dann sagte er: „Die beste Möglichkeit wäre gewesen, es so zu machen, wie die Henker der Antike. Darf ich ...?“ Er nahm ihr die Lampe aus der Hand, legte beide Hände darum und hob sie über seinen Kopf. Dann ließ er sie bis hinab auf Jennys Schlüsselbein sausen. „Sehen Sie, hier in diese Mulde kann man ganz leicht eindringen.“ Er bohrte die Lampe in die weiche Stelle zwischen Hals und Schlüsselbein. „Die Klinge saust durch Lunge, Arterien und schließlich ins Herz. Das Blut ergießt sich komplett in den Bauchraum. Wenn ich die Klinge wieder hinausziehe, werden außer dem kleinen Schnitt hier oben, keine Wunden sichtbar. Eine sehr elegante Methode.“

      Jenny blickte irritiert auf die Lampe auf ihrer Schulter. „Eine Methode, die der Täter offenbar nicht kannte.“

      „Naja, das würde ich nicht unbedingt schlussfolgern. Die Technik, die er angewendet hat, erklärt sich auch nicht von selbst. Er scheint sich mit der Frage auseinandergesetzt zu haben, wie er vorgehen soll. Und sehen Sie: Ich bin eins zweiundachtzig, Sie dürften rund eins ... sagen wir eins fünfundsechzig groß sein. So ist es ein Leichtes für mich, von oben herab zuzustechen. Herr Middleman hier hat mit Einssechsundsiebzig in etwa die europäische Durchschnittsgröße für einen Mann. Sie hätten da bereits Probleme, die antike Dolchstoßmethode anzuwenden, denn die Klinge muss gerade von oben hinabgestoßen werden. In der Antike mussten sich die Opfer hinknien. Und bedenken Sie, dass der SS-Dolch ein zwanzig Zentimeter langes Blatt hatte.“

      „Sie meinen, der Täter war möglicherweise nicht groß genug für den römischen Dolchstoß?“

      Erst jetzt nahm Isenbarth die Lampe wieder von Jennys Schlüsselbein. Er hielt sie vor sich, betrachtete das Gerät. „Möglich, dass er aufgrund seiner Größe nur eine Option hatte, zuzustoßen ...“ Er knipste die Lampe ein, ein gelber Strahl tanzte über Jennys linker Brust. „Hier!“

      Er war noch immer erregt, als er über den verdorrten Rasen der Deutschnationalen stapfte. Einfach typisch. Typisch Frau war das mal wieder. Gleichberechtigung fordern, aber selbst in verkrustetsten Klischeewelten stecken. „Sind Sie sicher, dass das die richtige Größe ist? Vielleicht sollten Sie besser noch einmal ihre Frau fragen!“, hatte die Drogerie-Kassiererin gesagt. Und das unter dem Nicken der anderen ihn umstehenden Damen. Als ob er nicht genau wüsste, welche Windelgröße seine Kleine hatte. Drei. Gut, er hatte Drei Maxi Plus gekauft, sicher war sie ja wieder ein bisschen gewachsen. Aber drei war schließlich drei.

      Er schüttelte den Kopf und war froh, als er mit seiner Katharina auf dem Arm endlich im Schatten der Tannen stand, die das Grundstück begrenzten. Sehr einladend sah das Gebäude nicht aus: Alle Rollläden waren dicht, eine Tür konnte er nirgends erkennen, alles wirkte verschlossen, verriegelt fast. Auch Plossila war noch nicht da, dabei war es bereits kurz nach fünfzehn Uhr. Dollerschell war selbst spät dran, die Diskussion in der Drogerie hatte Zeit gekostet. Er hatte argumentiert, dass er sich schon deshalb bestens mit der Windelgröße auskenne, weil er die Kleine schließlich ständig wickele – von den Frauen aber nur müde Blicke erhalten. Immerhin wusste er jetzt, wie man sich fühlte, wenn man diskriminiert wurde. Erniedrigt.

      Immer noch in Rage begann er, im Stechschritt um das Haus herumzulaufen. Er musste jetzt einfach in Bewegung sein, sonst würde er nur noch wütender werden. Er konnte Ungerechtigkeit nicht ertragen und schon gar nicht, wenn sie ihn selbst betraf. Es schadete außerdem nichts, sich ein wenig umzusehen, solange Plossila noch nicht da war. Und schließlich war es für die Kleine auch besser, wenn er nicht die ganze Zeit auf der Stelle stand. Je mehr Neues es zu sehen gab, desto ruhiger war sie. Ursprünglich hatte er gehofft, sie im Auto lassen zu können, doch an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Und die Zeit, sie vor dem Einsatz noch schnell nach Hause zu bringen, hatte er nicht gehabt. Aber es würde schon gehen, sagte er sich. Hier war sowieso niemand.

      Auch hinter dem Haus war alles wie ausgestorben. Ein Grillplatz zeigte immerhin an, dass dieser Ort schon einmal menschliches Leben gesehen hatte. Er stellte sich an ein schwarz lackiertes Geländer und versuchte, in der Kühle des Schattens seinen Ärger abregnen zu lassen.

      Plötzlich hörte er ein Schmatzgeräusch, direkt neben seinem Ohr, dann machte es Pling. Er sah zu Kathi, sah dann hinab auf einen feuchten Kellereingang zwei Meter unter seinen Füßen. Der Schnuller war auf ein paar Bierkästen gefallen und von dort auf den Boden. Er sah wieder zu seiner Tochter auf, doch die blickte vollkommen unschuldig und wie es schien mit einem Funken Stolz auf den grauen Fleck, den sie ihren Vater auf den Kapuzenpulli gezaubert hatte.

      „Katharina, das ist der letzte Schnuller, den wir haben. Dann kannst du ja gar nicht mehr schlafen heute.“ Und der Papa bekommt gar keine Ruhe, fügte er in Gedanken hinzu.

      Doch die kleine Katharina dachte ohnehin nicht ans Schlafen. Sie begann stattdessen damit, mit den Schnüren zu spielen, die aus der Kapuze ihres Vaters hingen. Offenbar waren sie gar kein schlechter Ersatz für den verloren gegangenen Schnuller.

      „Also gut“, sagte Dollerschell und setzte sich in Bewegung. Er eilte die Stufen hinab, stieß mit der Schulter leicht gegen die Bierkästen und fischte dann den Schnuller vom Boden. Er hatte auf einem rostigen Abflussgitter gelegen. Aus dem Loch stank es nach Gülle und Katzenpisse. „Na, den kannst du erst mal nicht mehr nehmen“, sagte er und steckte sich das Ding in die Hosentasche. Er sendete seiner Tochter einen ernsten Blick, doch die schaute nur mit großen Augen über die Schulter ihres Vaters hinweg. Erst als er ihrem Blick folgte, bemerkte er, dass die Kellertür gleich neben ihm offenstand.

      Er nahm Kathi von der rechten auf die linke Schulter, fuhr mit der Hand über eine raue aufgesplitterte Stelle über dem Schloss. Ein daumendicker Holzspalt brach ab und segelte zu Dollars Füßen auf den Boden. Mit der Pike gab er der Tür einen leichten Schubser. Sie schwang um eine Armlänge auf und tickte dann gegen irgendetwas Hartes.

      Dollerschell stieß einen Seufzer aus. Wie automatisch griff er sich an die Brusttasche. „Scheiße, die Kippen liegen im Auto“, sagte er. Scheiße sagte man nicht, zischte es durch seinen Kopf. Er lächelte seine Tochter schuldbewusst an.

      Er wusste nicht, warum, doch setzte er einen ersten Fuß in den Keller und schob sich dann durch die Tür ins Innere. Es war dunkel, nur das Licht eines angrenzenden Zimmers drang in den Raum hinein. Es reichte, um festzustellen, dass hier irgendetwas passiert sein musste. Die Vitrine zu seiner Linken war eingeschlagen, der Wandschrank stand schräg im Raum, verbarrikadierte fast die Tür und ein kleiner Holztisch lag umgekippt halb auf einer muffigen Cord-Couch, halb auf dem Boden.

      Dollerschell ging auf das Licht zu, trat in einen Flur. Links befand sich ein Heizungskeller, geradeaus gab es eine Art Hobbyraum: eine Tischtennisplatte, mehrere andere Sportutensilien auf alten, staubigen Metallregalen, daneben Kisten, ein paar abgefahrene Autoreifen. Ordnung sah anders aus. An der Wand hing ein Bild Adolf Hitlers in hetzerischer Pose. Er betrachtete es kurz und bemerkte, wie auch seiner Tochter das Poster auffiel. Zunächst blieb ihre Miene ausdruckslos, dann nickte sie leicht mit dem Köpfchen. Plötzlich sackten ihre Mundwinkel nach unten und sie stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus.

      „Na komm, der böse Onkel ist doch schon lange tot“, versuchte Dollerschell, seine Tochter zu trösten. Doch erst als sie aus dem Raum in den Flur zurückgekehrt waren, hörte Kathi auf zu weinen. „Wir gehen wieder nach draußen. Das hat hier ja alles ohnehin keinen Sinn.“ Er dachte: Wahrscheinlich wartet Plossila ohnehin vor dem Haus und fragt sich, wo ich bleibe.

      Plötzlich krachte es über ihnen. Der Putz rieselte von der Decke, die Wände vibrierten leicht. Dollerschell hörte Schreie. Wieder ein Schlag. Irgendetwas schien dort oben zu