Er setzte die Sonnenbrille auf, denn Espresso trank man ausschließlich mit Sonnenbrille auf der Nase, wie er fand. Dann entschied er, den Wagen stehen zu lassen und zu Fuß gehen.
Schon nach etwa drei Minuten bereute er, nicht den Wagen genommen zu haben. Die Sonne brannte auf ihn herab, trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn, machte seine Schritte schwer. Er blickte zurück: Das kleine Städtchen schien wie verlassen, kam einer Kulisse gleich. Entweder man war am See oder blieb zu Hause vor den Ventilator.
Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch über den Nacken, war außer Puste, fühlte sich schlapp. Wieder einmal nahm er sich vor, so bald wie möglich an seiner Fitness zu arbeiten. Morgen. Später. Irgendwann.
Endlich, er war da! Seine Schuhe knirschten über einen von der Sonne verdorrten Rasen. In der Mitte stand ein Flaggenmast. Er nahm die Sonnenbrille ab und blickte hinauf. Die Deutschlandfahne hing schlapp herunter, trotz Windstille klimperte irgendetwas in unregelmäßigen Abständen gegen das Aluminium der Stange.
Plossila wischte sich mit dem Unterarm über das Gesicht und betrachtete das Gebäude. Es erstreckte sich über drei Etagen, in die jeweils zwei große Fenster eingelassen waren. Alle Fenster waren mit Rollläden verschlossen. Ein zweistöckiger Erker hatte sich vor die linke Fensterfront gelegt, er gab dem Gebäude etwas von einer Festung, die kleinen Fenster an der Seite des Erkers wirkten wie Schießscharten.
Plossila zog sein Handy heraus, sah auf die Uhr. Viertel vor drei, Dollerschell würde also erst in fünfzehn Minuten eintreffen. Müde schritt er auf das Haus zu.
Die Eingangstür befand sich auf der westlichen Seite, auf der Klingel stand kein Name, was Plossila nicht verwunderte. Er schritt weiter um das Gebäude herum, das zur linken von gewaltigen Tannen flankiert wurde. Auf der Rückseite des Hauses ein weiteres Rasenstück, ebenfalls von hohen Tannen umstellt. Umstellt wie von großen, stummen Soldaten. Im Eck ein schwerer Steingrill, der Rasen davor war zertrampelt, eine trockene Lehmschicht zeigte sich. An der Hauswand lehnten ein paar hölzerne Klappstühle. Daneben ein schwarzes Geländer, das zu einer Kellertüre hinabführte.
Plossila legte eine Hand an das Geländer, es war überraschend kühl. Eine eigenartige Stimmung erfasste ihn. Verlassenheit.
Er atmete tief ein, trat dann um das Geländer herum und ging die Stufen hinab. Unten stapelten sich leere Bierkästen. Er legte die Hand an das morsche Holz der Tür. Es gab keine Klinke und er nahm nicht an, dass sie offen war.
Er täuschte sich. Zwar konnte er die Tür nicht aufstoßen, doch das Schloss war nicht verriegelt. Er sah genauer hin – es schien aufgebrochen worden zu sein, lange Holzspäne standen ab, deutlich erkannte er, dass jemand die Tür mit einem Balleisen oder etwas Ähnlichem traktiert hatte.
Dennoch: Die Tür ließ sich keine Handbreit öffnen, etwas versperrte sie von der anderen Seite. Er nahm das Handy aus der Tasche, schaltete die Leuchte ein und hielt sie vor den engen, schwarzen Türspalt. Doch der dünne Lichtstrahl verlor sich in dem Meer aus Dunkelheit, das in dem Keller hauste wie etwas Lebendiges. Ein dunkles Cordsofa wurde sichtbar, irgendetwas Gläsernes stand davor, gleich links an der Rückwand befand sich offenbar ein Regal, mehr erkannte er nicht.
Er schaltete die Lampe wieder aus, blickte noch einmal auf die Uhr. Noch sieben Minuten – wenn Dollerschell pünktlich kam. Am besten, ich warte vor dem Haus, dachte er. Er hatte hier unten keinen Handy-Empfang, wie sollte Dollar ihn finden? Er blickte auf, der schwarze Schatten des Hauses lag über dem Garten, auch hier hinten waren alle Rollos heruntergelassen. Der Geruch von Katzenpisse lag in der Luft. Es ist ohnehin keiner zu Hause, sagte er sich. Die Nazis sind am See oder brüllen irgendwo mit bloßem verbrannten Oberkörper „Sieg heil“ bei einer Demo. Wahrscheinlich im Osten.
Er blickte auf die Tür. Ohne weiter nachzudenken, rammte er die Schulter dagegen. Es gab einen dumpfen Laut, irgendetwas quiekte leise auf der anderen Seite.
Der Spalt war nicht größer als zuvor.
Ratlos sah er sich um, fuhr sich mit einer Hand durch das leicht fettige Haar. Dann trat er zurück, bis an die Bierkästen, nahm Anlauf. Wieder donnerte er mit der Schulter gegen das morsche Holz. Rumpeln, Quieken. Ein stechender Schmerz durchzog sein rechtes Schultergelenk.
Scheiße, dachte Plossila und krümmte sich nach vorne. Ein verrosteter Abfluss grüßte vom Boden. Er begann, den Schmerz mit der linken Hand zu verreiben. Es würde einen blauen Fleck geben, er bekam immer schnell blaue Flecken.
Er inspizierte den Spalt. Zwei Zentimeter hatte er gewonnen. Wenn er sich noch zwanzig Mal dagegen warf, wäre er groß genug, um hindurch zu schlüpfen. Und seine Schulter wäre mit Sicherheit verrenkt, ausgekugelt oder gebrochen. Oder alles gleichzeitig.
Ich warte auf Dollerschell, zu zweit wird es gehen.
Plossila fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, drehte sich einmal im Kreis, trat dann mit der Pike gegen die Bierkästen. Es klirrte.
Dollerschell, dachte er. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit einem gewissenhafteren Polizisten zusammengearbeitet zu haben. Und er hatte sich weiterentwickelt in den letzten Jahren. Früher war er oft unkonzentriert gewesen, ein bisschen fahrig, jetzt entging ihm immer weniger. Er konnte ein guter Ermittler werden, das Einzige, was ihm fehlte, war manchmal die zündende Idee. Die Phantasie, die auch irgendwie dazugehörte.
Dollerschell war eher ein Mann der Vorschriften und der Dienstanweisungen, wusste Plossila. Würde er wirklich mit ihm hier unten diese Tür aufbrechen und ohne Hausdurchsuchungsbefehl in dieses Gebäude eindringen?
Plossila musste sich keine Antwort auf diese Frage geben, stattdessen kickte er erneut gegen die Bierkästen. Er betrachtete die Kästen. Dann die Tür.
Ja, dachte er, so könnte es gehen.
Er machte einen Schritt auf die Tür zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die Füße stemmte er gegen die Bierkästen, bis er zwischen Tür und Kästen in der Luft hing. Dann presste er sich mit Wucht gegen das morsche Holz, stemmte die Bierkästen gegen die Wand. Er stieß einen unterdrückten Schrei aus, hörte hinter sich das Jammern der Tür. Er hielt die Luft an, presste mit voller Wucht, bis sich ein erneuter Schrei aus seinem Inneren löste und wie aus einem unter Druck stehenden Ventil aus ihm entwich. Endlich, die Tür gab nach, erst einen kleinen Spalt, dann gab es einen Ruck und Plossila sackte auf den Boden.
Aus dem Abfluss roch es nach Verwesung, eine Spinne streckte ihre langen Beinchen über das rostige Gitter. Plossila rappelte sich auf die Knie, drehte sich um.
Der Türspalt war jetzt knapp unterarmgroß, er würde hindurchpassen, wenn er den Bauch einzog. Er stand auf, schaute erneut ins schwarze Nichts. Immerhin sah er das Leuchten einer roten Diode am anderen Ende des Raums. Ein Lichtschalter!
Plossila atmete tief ein und schob sich durch den Türspalt, er hätte keinen Zentimeter kleiner sein dürfen.
Eine plötzliche Kühle umfasste ihn, Staub kitzelte in der Nase und es roch unangenehm nach Bier und Schweiß und einem Hauch von Cannabis. Auf dem Boden lag ein schmaler Lichtkegel, wie ein langes gelbes Kuchenstück sah es aus. Es fiel durch den Türspalt in den Raum und beleuchtete die versiffte Cord-Couch und einen Teetisch, in den sich Staub, Schmutz und Asche gefressen hatten.
Eine komplette Schrankwand hatte die Tür versperrt, sie reichte fast bis zur anderen Seite des Raumes. Offenbar hatte man sie von der Wand gelöst und vor die Tür gewuchtet. Plossila hielt sich mit einer Hand daran fest und tastete sich durch die Dunkelheit in Richtung des Lichtschalters. Unter seinen Sohlen knirschte es. Zerbrochenes Glas, wusste er.
Bevor er den Lichtschalter drückte, blickte er hinaus in den angrenzenden Flur, doch sah er nicht die Hand vor Augen. Er drehte sich wieder dem Zimmer zu, schaltete die Lampe ein.
Die Birne flackerte, schoss zuckende Lichtblitze durch den Raum. Erhellte die Sofalandschaft, an der Wand eine riesige Fahne mit Totenkopfschädel. Combat 18, las Plossila gerade noch, dann war das Licht schon wieder aus.
Verfluchtes