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Sebastian Klauk konnte zwar schätzen, was ihn erwarten würde, dennoch hatte er ein komisches Gefühl als er seinen neuen Mini-Countryman vor dem Haus parkte, in dem seine Cousine Irina Lanau wohnte. Noch nie hatte er dieses Gefühl gehabt, wenn er seine Lieblings-Cousine besuchte. Mit Irina verband er Heiterkeit und Lebensfreude. Diesmal war es anders. Am Morgen hatte er mit klopfenden Herzen den neuen Mini beim Autohändler abgeholt und eine lange Ausfahrt mit dem spritzigen Diesel gemacht. Nein, eigentlich war der Mini nicht neu, sondern ein Jahreswagen. Auf einen ähnlich oder gleich ausgestatteten Neuwagen hätte er ein halbes Jahr warten müssen. Dieser Mini stand auf dem Verkaufsplatz des BMW-Händlers in Bonn und Klauk hatte sich sofort verliebt. Kurzentschlossen hatte er den Mini gekauft.
Jetzt stand er genau dort, wo er schon hundert Mal seinen VW-Golf geparkt hatte. Der war sicher schon in der Schrottpresse gelandet, nachdem er in St. Augustin bei einem Unfall einen Totalschaden erlitten hatte. Weil Klauk in diesen Unfall verwickelt wurde und er nicht zur Verabredung mit seiner Cousine kommen konnte, fuhr diese alleine mit ihrem Mountainbike los und wurde das Opfer des ‚Siegsteig-Killers‘, der Wochen zuvor sein Unwesen auf den Wanderwegen getrieben hatte. Sie überlebte die Gefangenschaft schwer verletzt und war gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden. Jeden Tag hatte Klauk sie im Krankenhaus besucht, was ihm dadurch möglich war, dass er noch vom Dienst suspendiert war. Ihre gebrochenen Rippen und ihre anderen Verletzungen würden schnell verheilen. Doch ihre verletzte Seele nicht.
Von seinen Kollegen hatte Klauk erfahren, unter welchen Umständen Irina im Trainingsraum des Killers gefangen gehalten worden war. Festgeschnallt auf einer Pritsche. Er hatte sich nicht an der jungen Frau vergangen, doch hatte sie mit ansehen müssen, wie der Mann seine Frau tötete. Diese Bilder verfolgten sie jede Nacht. In der Dunkelheit ihres Schlafzimmers wachte sie schweißgebadet auf, sah im Traum Carina Quade sterben. Seitdem schlief sie mit Licht. Die Träume blieben.
Klauks Verletzungen, die er bei dem Unfall erlitten hatte, waren längst abgeklungen. Sein Schleudertrauma war vergangen, die Rippenquetschungen ebenfalls. Doch auch Klauks Seele hatte gelitten. Nicht nur, weil Irina in die Gewalt von Gregor Quade geraten war, nein, vor allem, weil er sich die Schuld daran gab. Sie hatte ihm gesagt, dass er nichts dafür konnte und auch nichts hätte dagegen tun können. Es war Schicksal. Klauk konnte diese Ansicht nicht teilen. Er war sicher, dass Quade sie nicht gequält hätte, wenn er nicht erfahren hätte, dass er Polizist war. Das wiederum stritt Irina strikt ab. Diese ganze Gefühlslage brachte Klauk dazu, an seinem Beruf zu zweifeln. Wollte er noch Polizist bleiben? Würde er es noch ertragen, solchen Menschen wie Gregor Quade hinterherzuhetzen? Sie zu jagen, sie zur Strecke zu bringen? Daher zögerte er, daher hatte er auch heute Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen gebeten, ihm noch Zeit zum Nachdenken zu geben. Doch wie lange konnte er das noch tun? Sein Team brauchte ihn. Kommissar Hell hatte ihn ebenfalls angerufen, er hatte ihn weggedrückt.
Schweren Herzens.
Oliver Hell. Sein Chef. Sein Vorbild. Gerne hätte er einen Vater wie ihn gehabt. Streng, aber gerecht, verbissen in der Verfolgung von Straftätern, aber auch ein hervorragender Lehrer, ein einfühlsamer Ermittler und der beste Kriminalist, den Klauk bisher erlebt hatte. Aber Hell war nicht sein Vater. Sein Vater hatte ihm am Telefon Vorwürfe gemacht. Mal wieder. Diesmal, weil Irina verletzt worden war. Weil Gregor Quade sie gequält hatte. Als könne Klauk etwas für die Psyche der Verbrecher, die er verfolgte. Sein Vater war das genaue Gegenteil von Oliver Hell. Aber er war sein Vater. Punkt.
Mit klopfendem Herzen drückte Klauk auf die Klingel.
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Allein zuhause schaute Irina Lanau aus dem Fenster, so wie sie es schon den ganzen Tag getan hatte, seitdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Ihr Blick ging über die Stadt, über Straßen und Dächer der Häuser in der Nachbarschaft, über die Bäume im angrenzenden Park bis hin zu den beiden höchsten Häusern Bonns, dem Post-Tower und dem ‚Langen Eugen‘, wie das ehemalige Abgeordnetenhochhaus liebevoll genannt wurde. Über allem lag seit dem Morgen ein grauer Dunst, der alles in eine konturenauflösende Decke hüllte. Das Siebengebirge auf der anderen Rheinseite schien sich mit dem Himmel zu vereinen. Seit Tagen war der Himmel nur blau gewesen, doch jetzt kündigte sich ein Wetterwechsel an. Der Sommer schien zu Ende zu gehen. Als sie ihren Blick senkte, sah sie einen rot-weißen Mini-Countryman durch die Straße rollen. Erst als der kleine Wagen vor ihrer Tür parkte, fiel ihr ein, wer das war. Es war Klauks neues Auto. Das musste sie sich erst einprägen. Jahrelang hatte ihr Cousin diesen VW-Golf gefahren. Bis zu diesem tragischen Unfall. Doch nicht nur das Auto hatte sich geändert. Seit diesem verhängnisvollen Tag hatte sich auch ihr Leben geändert. Sie biss sich unbeabsichtigt auf die Zähne und verspürte sofort den ihr mittlerweile vertrauten Schmerz. Gregor Quade hatte ihr den Kiefer gebrochen. Man hatte ihr versprochen, dass die Wunde, die bei der Operation entstanden war, in ein paar Tagen abgeheilt sein würde. Doch der Schmerz begleitete sie immer noch. Sie durfte keine feste Nahrung zu sich nehmen, nur trinken und irgendeinen elenden Brei löffeln. Und sprechen konnte sie auch nur mit Mühe und unter Schmerzen. Daher kam ihr Klauks Besuch nicht wirklich gelegen. Sie würden sich unterhalten. So wie sie es immer taten, wenn er bei ihr war. Sie hatten immer viel gelacht. Aber heute würden sie nicht lachen. Auch ihr Blickwinkel ihrem Cousin gegenüber hatte sich geändert. Wenn sie ehrlich zu sich war, dann war es so. Und sie fühlte sich schuldig dabei. Klauk konnte nichts dafür. Er hatte einen Unfall, den er nicht selbst verschuldet hatte. Er hatte sie sofort angerufen, sobald es ihm möglich war, um ihr von dem Unfall zu berichten. Dass er damit den ‚Siegsteig-Killer‘ auf ihre Spur bringen würde, konnte Klauk nicht ahnen. Doch so war es gekommen. Gregor Quade hatte sie bemerkt, betäubt und entführt. Hatte sie tagelang in seinem Trainingsraum im Keller seines Hauses gefangen gehalten und sie gezwungen, den Mord an seiner Frau mit anzusehen. Einen bestialischen Mord. Seitdem sie Zeuge dieses grauenvollen Gemetzels geworden war, verfolgten sie diese Bilder. Immer, wenn sie die Augen schloss. Nachts kamen die Albträume. Immer wiederkehrende Albträume. Sie wollte nicht mehr schlafen, nicht die Augen schließen. Dann kamen diese Bilder. Nächste Woche hatte sie ihren ersten Termin bei der Psychologin, wenn sie bis dahin wieder richtig sprechen könnte. Nie hatte sie gedacht, dass sie einmal auf einer Psychologencouch liegen würde. Irina Lanau doch nicht. Die lebenslustige und quirlige Irina brauchte keine Psychologin. Oh doch. Und wie sie eine brauchte.
Ich glaube, ich nehme Sebastian ganz fest in den Arm und drücke ihn, dachte sie, als die Türklingel läutete. Würde das so einfach sein? Sie drehte dem Fenster den Rücken zu und schlurfte mit ihren Kinderpantoffeln, die ihr Klauk geschenkt hatte, über den Flur. Weiße Pantoffel, die wie ein Hund aussahen. Mit Knopfaugen und großen schwarzen Ohren.
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»Ich muss doch heute Nachmittag noch ins Büro«, erklärte Julia Deutsch mit einer Handbewegung zum Bildschirm ihres Computers hin.
Jan-Phillip Wendt gab ein jämmerliches Husten als Antwort zurück. Er lag auf der Couch im Wohnzimmer, dick in eine Decke eingemummelt und litt still vor sich hin.
»Och, mein armer Schatz, bist du sterbenskrank? Soll ich den Notarzt holen?«, fragte sie keck, stand von ihrem Bürostuhl auf und kam zur Couch herüber. Wendt folgte ihr mit einem leidenden Blick und hustete erneut.
»Du kannst mich nicht alleine lassen«, röchelte er und sah jetzt noch erbarmungswürdiger aus als zuvor.
»Dieser Blick! Jeder Dackel wäre neidisch darauf!«, sagte sie, setzte sich neben Wendt auf die Couch, legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie zog die Hand schnell wieder weg und tat so, als hätte sie sich an seiner Stirn verbrannt, sog schnell die Luft ein. »Hoffnungsloser Fall«, murmelte sie und schüttelte besorgt den Kopf. Wendt erhob sich langsam und mit einem Stöhnen.
»Können sich diese Leute nicht ohne dich scheiden lassen? Oder wenigstens den Anstand besitzen zu warten, bis ich nicht mehr todkrank bin?«
Er griff nach dem Päckchen Taschentücher, das auf dem Couchtisch lag, faltete langsam eines auseinander und schnäuzte sich geräuschvoll. Julia beobachtete ihn mit verschmitztem Gesichtsausdruck.
»Ich muss leider dorthin, schon alleine, um mir weiterhin deinen immensen Taschentuchkonsum