Vor der Tür des Hauses stand eine Frau mittleren Alters mit langen dunklen Haaren, einem kurzen Minirock und Stöckelschuhen, und winkte John zu, so als würde sie ihn schon erwarten. Doch John hatte sich gar nicht angemeldet und wunderte sich, aber er blieb kurz vor der Frau mit dem Auto stehen und stieg aus.
„Sie müssen John Down sein. Meine Schwiegermutter hat mich angerufen und gesagt, dass Sie wohl in den nächsten Tagen bei uns vorbeikommen würden.“
John hatte Mrs. Sterling gegenüber zwar nicht erwähnt, dass er den Onkel oder die Tante aufsuchen würde, aber sie konnte es sich wohl denken, dass er alle näheren Verwandten unter die Lupe nehmen würde. „Ja, ich bin John Down. Und Sie sind?“
„Ach, ich Dummerchen! Ich bin Marie, die Tante von Susan. Ich hoffe, das arme Mädchen kommt bald zurück! Hier hat sie doch alles! Ich verstehe nicht, warum sie gegangen ist, ohne etwas zu sagen.“
„Sie glauben also auch, dass sie einfach von zu Hause weggelaufen ist?“
„Ja, was denn sonst? Wir leben hier in einem beschaulichen kleinen Dorf, wer soll ihr denn hier etwas angetan haben? Nein, nein, Susan war schon immer sehr sprunghaft und ein bisschen merkwürdig. Sie erzählte oft Dinge, die nicht wahr waren.“
„Von welchen Dingen sprechen Sie?“
„Ach, sie erfand einfach Sachen über ihren Bruder oder ihre Mutter, und nachdem diese gestorben war, wurde das alles noch schlimmer. Sie war ein bisschen verrückt, müssen Sie verstehen. Vielleicht wollte sie einfach wieder mehr Aufmerksamkeit, nachdem sie die Schauspielschule nicht geschafft hatte.“
„Sie hat sie nicht geschafft? Ich habe erfahren, dass sie sie abgebrochen hat! Stimmt denn das nicht?“
„Abgebrochen, nicht geschafft, pah!“ Marie winkte mit der Hand ab. „Das ist doch dasselbe. Sie bekam ihr Leben einfach nicht auf die Reihe. Sie wollte Schauspielerin werden! Hätte sie doch lieber einen richtigen Job begonnen, als so einem Hirngespinst hinterherzujagen. Sie war eine Träumerin.“
John merkte, dass Susans Tante nicht das Beste in ihrer Nichte sah. Sie wirkte aufgedreht und ein bisschen weltfremd, denn John wusste, dass vor allem auch ein so verschlafenes Dorf wie dieses Steakbeaver seine dunklen Seiten hatte, doch Marie sah nur die traute, schöne Welt. Für sie war es unmöglich zu begreifen, dass Susan auch etwas zugestoßen sein konnte. Doch es gab weder Beweise dafür noch dagegen. „Welche Dinge hat sie denn über ihren Bruder Chris oder ihre Mutter erzählt?“
„Ach, ich möchte darüber nicht sprechen. Schlimme Sachen, aber alle waren sie nicht wahr, und darum ist das auch nicht weiter wichtig. Ich meine, Chris war ein liebenswerter junger Mann, und darum ist es umso trauriger, was damals geschah, ein Mord hier in unserem Dorf, das war wirklich eine harte Zeit für uns alle.“
John bemerkte die Stimmungsschwankung bei Marie, als er ihr diese Frage gestellt hatte. Vielleicht steckte doch noch mehr dahinter, als sie sich eingestehen mochte, doch er wusste, dass sie ihm jetzt gleich keine Auskunft geben würde. „Wie war Ihr Verhältnis zu Susan?“, fragte er deshalb ausweichend.
„Ach, wir hatten uns im Grunde nie viel zu sagen. Sie behielt ihre Meinung meistens für sich und wenn sie dann mal etwas sprach, war es nur Unsinn in meinen Augen, aber trotzdem wäre es schön, wenn sie wieder zurückkäme, denn unsere Familie hat schon genug gelitten, da braucht es nicht auch noch so etwas. Eine verschwundene Sterling ist doch ein gefundenes Fressen für die Presse, und es wird nicht mehr lange dauern, dann stehen wir wieder in allen Zeitungen dieses Landes. Sie müsste das doch wissen und mehr auf die Familie achten.“
„Danke, Marie, für Ihre Ehrlichkeit! Dürfte ich vielleicht auch noch mit Ihrem Mann sprechen?“
„Aber natürlich! Er ist hinter dem Haus im Garten und ruht sich ein wenig aus.“
John schlenderte um das Haus herum und war immer noch verblüfft über die ehrlichen Antworten von Marie. Aber es stellte sich auch Unbehagen ein, denn er bekam immer mehr das Gefühl, dass er mit der Annahme richtig lag, dass hinter dieser netten, schönen, ländlichen Idylle ein Abgrund lag, den es erst zu erforschen galt. Doch wenn dem so war, warum hatte ihn dann Mrs. Sterling angeheuert? Als eines der Oberhäupter der Familie musste sie doch über alles Bescheid wissen! Und sie müsste annehmen, dass er unangenehme Dinge aufdecken würde! Oder wollte sie genau das? Vielleicht, vielleicht auch nicht, und vielleicht lag er mit allem daneben, und diese nette Idylle war wirklich ein so schöner Ort, wie er zu sein schien, und die liebe Susan war einfach nur von zu Hause weggegangen. Es konnte alles eine einfache Erklärung haben. Es könnte!
Als John hinter dem Haus angelangt war, sah er einen Mann in einer Hängematte liegen, die zwischen zwei Bäumen befestigt war. „Hallo!“, rief er in Richtung des Mannes.
Dieser ließ sich mit einer Bewegung langsam aus der Matte gleiten und drehte sich zu John um. „John Down, nehme ich an!“
„Ja, richtig! Hier scheinen schon alle meinen Namen zu kennen, da wäre es nur fair, wenn ich den Ihren auch erfahren würde.“
„Mein Name ist Stan. Stan Sterling, aber den Nachnamen konnten Sie sich wahrscheinlich schon denken. Sie sind wegen Susan hier? Eine wirklich unschöne Angelegenheit.“
„Unschön inwiefern?“
„Ja, dass sie einfach so gegangen ist, ohne jemandem davon etwas zu sagen. Jetzt machen sich doch alle Sorgen.“
John musterte den Mann genau, wie er es bei jedem tat, den er kennenlernte. Stan Sterling war knapp 1,85 groß; das konnte er schätzen, denn er selbst war knapp über 1,80, und Stan war nur geringfügig größer. Er hatte eine Kurzhaarfrisur, und seine Haarspitzen waren schon leicht angegraut. Darum schätzte John ihn auf 50, vielleicht um ein oder zwei Jahre jünger. Eine sportliche, schlanke Figur und ein charismatisches Gesicht verliehen ihm sowohl ein wenig Respekt als auch einen Hauch von Wahnsinn. Seine Gesichtsform war etwas kantig, was John glauben ließ, dass er etwas dazu neigte aggressiv zu werden. Doch das war eher eine Annahme aus persönlichen Erfahrungen als unter fundierten wissenschaftlichen Gesichtspunkten gesehen. „Und was wäre, wenn sie nicht einfach so gegangen ist? Wenn ihr etwas zugestoßen ist?“
„Das glauben Sie doch nicht wirklich, oder?“
„Was ich glaube, spielt im Moment noch keine Rolle. Ich sammle Fakten und mehr nicht.“
„Und was haben Sie bis jetzt?“
„Noch nicht viel. Ich bin heute erst den zweiten Tag hier, also suche ich noch. Mrs. Sterling glaubt jedenfalls nicht daran, dass sie einfach so gegangen ist.“
„Ach, Julia!“ Stan schnaufte abfällig. „Sie ist doch ähnlich wie ihre Enkelin. Sie glaubt, hinter jedem Busch eine Verschwörung zu sehen. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Susan bald wieder auftauchen wird? Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“
„Sie haben also nichts Auffälliges bemerkt, sei es am Verhalten oder an irgendetwas anderem?“
„Nein, oder ja, doch. Eine Kleinigkeit, aber diese ist sicher nicht wichtig. Sie hat die Tage, bevor sie gegangen ist, sehr oft telefoniert, das habe ich in der Firma mitbekommen. Und wenn sie telefonierte, verließ sie den Raum, so als wollte sie nicht, dass es jemand hört. Wahrscheinlich hat sie dort schon Freunde angerufen, um alles für ihre Aktion zu planen.“
„Aber warum sollte sie das denn tun? Ich meine, sie hätte doch allen sagen können, dass sie nicht weiter in der Firma arbeiten und Steakbeaver verlassen möchte?“
„Ja sicher, aber so war Susan eben. Unberechenbar und eine kleine Geheimniskrämerin. Es würde genau zu ihr passen, und darum glaube ich nicht daran, dass ihr etwas zugestoßen