JEDER. Thomas Seidl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Seidl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847690450
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      „Hatte sie öfters Besuch von Freunden, hier in der Villa?“

      „Wenn ich genau darüber nachdenke, hatte sie eigentlich gar keine Freunde hier, denn seit damals, als ihre Mutter starb und sie sich veränderte, wandten sich alle von ihr ab, und Besuch hatte sie auch nie, soweit ich weiß.“

      „Danke, ich habe jetzt genug gesehen. Alles, was ich jetzt noch bräuchte, wäre ein Foto von Susan.“

      „Ich habe das alles schon vorbereiten lassen. Ingwa, meine Haushälterin, wird Ihnen beim Ausgang einen Umschlag mitgeben, darin finden Sie das gewünschte Foto und eine Wegbeschreibung zu Ihrem Motel, in dem ich Sie untergebracht habe. Außerdem erhalten Sie Unterstützung von der örtlichen Polizei. Ein Beamter wird Sie morgen um acht Uhr von dort abholen. Er wird Ihnen bis zur Klärung des Falles behilflich sein, auch wenn die Polizei nur glaubt, dass Susan abgereist sei. Falls Sie jetzt keine weiteren Fragen mehr haben, würde ich mich gerne zurückziehen. Das alles nimmt mich doch sehr mit.“

      „Ich habe im Moment auch alle Informationen, die ich brauche. In zwei Tagen werde ich für die Befragung Ihres Sohnes und Ihres Mannes wieder kommen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mrs. Sterling.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich John. Ingwa übergab ihm noch den Umschlag, und er verließ die Villa.

      In seinem Auto öffnete er das Kuvert und sah sich das Foto akribisch an. Susan Sterling war ein bildhübsches Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren, so wie Mrs. Sterling es ihm erzählt hatte, und einem zierlichen Körperbau. Warum war sie nur weggelaufen? Und was war ihr zugestoßen? Diese zwei Fragen beschäftigten John, doch eine schnelle Antwort darauf war nicht in Sicht. Außerdem stellte er sich die Frage, warum er in ihrem Zimmer ein langes, braunes Haar gefunden hatte, obwohl Susan blond war und keinen Besuch empfangen hat. Er drehte den Zündschlüssel um und ließ den Motor aufheulen. Die Wegbeschreibung zu seiner Unterkunft hatte er sich auch kurz angesehen und eingeprägt. In einem so kleinen Kaff konnte es nicht schwierig sein, dieses Motel zu finden.

      Er fuhr einen langen, einspurigen Weg entlang, an Kornfeldern und dem einen oder anderen entlegenen Haus vorbei. Nach wenigen Minuten bog er an einer Kreuzung rechts ab. Diese Straße führte ihn genau in die Dorfmitte. Es war schon später Nachmittag, aber trotzdem sah er keine Menschenseele auf der Straße. Es fühlte sich an, als wäre er der letzte Mensch auf diesem Fleckchen Erde. Nachdem er den Dorfkern durchfahren hatte, kam er wieder auf eine einsame Straße, und nach einem guten halben Kilometer sah er das Motel. Von außen sah es schäbig und heruntergekommen aus. Die Leuchtreklame mit der Aufschrift Motel passte überhaupt nicht in das idyllische Dorfbild. Langsam bog er auf den Parkplatz ein. Er stellte den Wagen ab und begab sich zur Rezeption.

      Die kleine Empfangshalle entsprach dem Eindruck, den er von draußen schon gewonnen hatte. Alles war sehr schlicht und mit minderwertigen Möbeln eingerichtet. Die Wände waren in einem hellen braun-weißen Muster tapeziert, die Lampen warfen gedämpfte Lichttöne in den Raum und erzeugten einen leicht schmuddeligen Look. Hinter der Rezeption befand sich der Schlüsselkasten. Zwölf Zimmer gab es in diesem Motel, acht Schlüssel hingen am Kasten, die anderen vier Zimmer waren im Moment wohl belegt. Eine altmodische Klingel befand sich vor ihm auf der Empfangstheke. John drückte sie zwei Mal, und ein heller Ton erklang und hallte durch den Raum. Eine Frau aus dem Hinterzimmer, das sich hinter der Rezeption befand, schrie ihm unfreundlich entgegen. „Ja, ja, ich komme gleich!“

      John holte seine Zigaretten aus dem Mantel und zündete sich eine davon an. „Ich liebe diese kleinen Dinger!“, flüsterte er. Dann kam die Dame aus dem hinteren Bereich. Sie verbesserte das Bild des Motels gar nicht, denn sie sah ebenso verrucht wie ungepflegt aus. Die Falten in ihrem Gesicht ließen darauf schließen, dass sie sehr viel rauchte und Alkohol trank und sie dies mit ihren wahrscheinlich mindestens 55 Jahren nicht mehr verstecken konnte. Ihre besten Zeiten waren schon lange vorbei, wenigstens ihre Figur hatte sie noch halbwegs halten können.

      „Wer sind Sie denn?“, fragte sie unwirsch. „Ach, Sie sind nicht von hier, also brauchen Sie sicher ein Zimmer.“

      John nickte. „Ja, Mrs. Sterling müsste für mich eines reserviert haben.“

      „Sie sind also der Detektiv, der die vermeintlich verschwundene kleine Sterling sucht? Ja, ich habe eines reserviert, auch wenn es unerheblich ist, denn wir haben zu dieser Jahreszeit nie viele Gäste.“ Die Dame überreichte John den Zimmerschlüssel.

      „Sie sagten ‚die vermeintlich verschwundene‘? Glauben Sie nicht daran?“

      „Was ich glaube, ist doch gar nicht wichtig. Die Sterlings sind hier die bekannteste Familie. Nachdem damals die Kohlefabrik in Steakbeaver in Konkurs gegangen war, ließen sie sich hier nieder und eröffneten die Brauerei. Es war für alle Menschen in diesem Dorf eine schwere Zeit, denn die meisten hatten zuvor in der Kohlefabrik gearbeitet. Die Sterlings gaben ihnen wieder eine Arbeit, und das Dorf erhielt dadurch wieder Aufwind. Sie haben viel für uns alle getan, dennoch sind sie nicht allseits beliebt. Ihre Art zu leben stieß vielen sauer auf, denn sie hatten alles, und die meisten anderen hatten nicht viel. Sie wissen doch, wie das ist, mit reich und arm. Und Chris war schon als Junge immer sehr seltsam. Er hatte einen Blick, der einen durchdrang und mit Angst erfüllte. Ein Gefühl, das ich nicht so recht beschreiben kann, aber viele hatten Angst vor ihm und das, obwohl er noch so jung war. Sie müssen verstehen, manche sahen in ihm den Teufel. Unheimlich, wenn ich daran zurückdenke, und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich nicht froh wäre, dass er tot ist. Aber ich habe jetzt schon genug erzählt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Schlafen Sie wohl, Herr Detektiv.“

      John drückte seine Zigarette am Aschenbecher, der auf der Rezeptionstheke stand, aus und schlenderte nach draußen. Er parkte sein Auto um, denn jedes Zimmer hatte direkt vor der Tür den passenden Abstellplatz. Dann nahm John den Umschlag und sein Gepäck aus seinem Fahrzeug und begab sich direkt in sein neues Zuhause, das er wohl für die nächsten Wochen behalten würde. Das Zimmer sah ähnlich wie jenes aus dem Film Psycho aus, in dem Norman Bates die Frauen ermordete. Zwei Lampen standen auf zwei Nachtkästchen, eine rechts und eine links vom Doppelbett, das sich mitten im Raum befand. Alles wirkte wie aus den Sechzigern. Ein Bild von einer Landschaft hing direkt über dem Bett, und ein alter Fernseher stand auf einem Kästchenschrank direkt an der gegenüberliegenden Wand. Daneben stand noch ein alter Fernsehsessel mit grün-graulichem Bezug. Hier gab es keinen Flat Screen, und das Telefon direkt neben der Lampe rechts vom Bett musste man noch mit Wählscheibe bedienen. John fühlte sich wie in alten Kindertagen.

      Er stellte sein Gepäck neben dem Bett ab und legte den Umschlag darauf. Jetzt musste er erst einmal duschen, denn es lag ein langer Tag hinter ihm. Er streifte seine Kleidung vom Körper und legte sie auf das Bett. Die Dusche sowie die Toilette befanden sich in einem kleinen Nebenzimmer. John drehte das Wasser auf und während er sich von diesem berieseln ließ, durchdachte er nochmals alle Fakten, die er bis jetzt gesammelt hatte.

      Chris, der Enkel von Mrs. Sterling, war also ermordet worden. Dies war aber schon zehn Jahre her, und die Enkelin Susan verschwand spurlos, aber der Abschiedsbrief zeigte, dass sie ihrer Großmutter vielleicht ihre Entscheidung einfach nicht mitteilen konnte, denn diese war streng und verstand die Wünsche ihrer Enkelin nicht. Die Mutter der Beiden beging vor fünf Jahren Selbstmord. Alles sehr verworren, dachte John, aber da der Erwartungsdruck in der Familie sehr hoch zu sein schien, wäre dies eine Erklärung für den Selbstmord und das Verschwinden von Susan. Doch so ganz wollte er das nicht glauben, denn sein Gefühl sagte ihm, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Er stellte die Dusche ab, nahm das Handtuch, das neben dem Waschbecken auf einem Ständer hing, und trocknete sich ab. Er fühlte sich nach der Körperkultivierung wieder fitter. Danach nahm er die Kleidung, die auf dem Bett lag, und legte sie über den Stuhl neben dem Fernseher.

      Splitternackt setzte er sich auf das Bett und nahm den Umschlag, den er zuvor auf das Gepäck gelegt hatte. Er holte das Bild von Susan heraus und sah es sich mehrere Minuten regungslos an, so, als wollte er, dass sie ihm etwas erzählte. Natürlich war das Schwachsinn, aber John starrte nur auf das Bild.

      Dann legte er es auf das Nachtkästchen und schaltete das Licht aus. Dies ging durch einen Lichtschalter, der sich an der linken Seite kurz oberhalb des Nachtkästchens befand. John