Darcar wusste gar nicht, wohin er rannte. Einfach nur weg. Sie trieben ihn durch die Straßen, er schlug Haken, bog in Gassen ein, setzte sich zweimal selbst vor eine Sackgasse und entkam durch ein eingeschlagenes Fenster. Doch er schaffte es einfach nicht, genügend Abstand zwischen sich und den Rattenkönig zu bekommen, dass er sich hätte verstecken können.
Irgendwann wurden sie müde, genauso wie er, doch Darcar war beflügelt von Angst und Wut – außerdem hatte er noch immer mehr auf den Rippen als diese dürren Kerlchen, auch wenn er und Veland nichts gegessen hatten.
Als Darcar hinter sich keine polternden Verfolger mehr hörte, erlaubte er es sich, kurz zu verschnaufen. Seine Lunge brannte wie Feuer, sein Durst war nagend. Immer wieder musste er schlucken, doch das befeuchtete seine trockene Kehle keineswegs.
Er lehnte sich einen Moment an eine Hauswand in einer dunklen und feuchten Sackgasse, beruhigte seinen schweren Atem und lauschte dann angestrengt. Er hörte … nichts. Stille.
Vorsichtig lugte er hervor, die Straße war wie leergefegt. Hatten sie aufgegeben? Das glaubte er nicht, viel eher ging er davon aus, dass sie einmal falsch abgebogen waren.
Er schlüpfte hervor, am Ende seiner Kräfte, hustete unterdrückt und taumelte mit schmerzender Brust und Beinen an den Häusern entlang, musste sich abstützen.
Am Ende der Straße wartete der Kanal auf ihn, das trübe Tageslicht spiegelte sich in der verdreckten Wasseroberfläche. Er hatte Durst. So wahnsinnigen Durst, dass er in Betracht zog, das Wasser einfach zu trinken. Alles in ihm schrie förmlich danach. Und obwohl er es besser wusste, konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Nur ein Schluck, sagte er sich. Das würde ihn schon nicht umbringen. Nur einen Schluck, damit es ihm besser ging.
Er sank am Kanal erschöpft auf die Knie und beugte sich hinab, schöpfte mit einer zur Kelle geformten Hand dreckiges Wasser, das abgestanden und faul stank. Es war ihm gleich, auch wie eiskalt es war, war ihm gleich. Er würde einen Schluck trinken und dann nach Veland suchen.
Sein kleiner Bruder war in Sicherheit, das sagte er sich immer wieder vor. Es war am heutigen Tage so viel Grausames geschehen, dass es einfach so sein musste. Wenn nun auch noch Veland etwas geschehen wäre…
Nein, so grausam konnte das Schicksal nicht sein. Nicht einmal zu ihm, obwohl es in den letzten Tagen wirklich übel mit ihm gespielt hatte. Aber Veland ging es gut! Es musste einfach so sein.
Und er würde ihn wiederfinden!
Das Wasser schmeckte erstaunlich normal, solange er den Geruch nicht einatmete, nur der darin schwimmende Dreck war gewöhnungsbedürftig. Er rann kratzend seine Kehle hinunter. Aus dem einem Schluck wurden zwei, dann drei. Er konnte nicht aufhören, sein Durst war gerade erst entfacht. Immer wieder schöpfte er die eiskalte Flüssigkeit, bis ihn ein Tritt in den Rücken geradewegs in den Kanal katapultierte.
Er brach durch die Oberfläche und versank komplett, wusste im ersten Moment nicht, was geschehen war, kam sich unwirklich vor. Der Schmerz war kaum zu beschreiben, das Wasser war zu kalt. Als wäre er in eine Wanne voll Glasscherben gestoßen worden, die durch seine Haut bis zu seinen Knochen schnitten. Unwillkürlich schnappte er nach Luft, doch die schwarzen Wassermassen waren längst über ihm zusammengeschlagen, verschluckten ihn ganz. Er atmete Wasser, es brannte fürchterlich. Blind strampelte er in der schwerelosen Eiseskälte, strampelte, ruderte mit dem Armen, um an die Oberfläche zu gelangen. Sein Mantel wollte ihn nach unten zerren. Panik erfasste ihn, er konnte nichts sehen, nichts hören, spürte etwas an sich vorbei schwimmen. Ratten? Fische? Etwas streifte ihn und er zuckte heftig zusammen.
Mit zwei starken Armzügen, die sich durch die Kälte anfühlten, als wollte er sich einen Berg hinaufzerren, brach er wieder durch die Wasseroberfläche und holte laut Atem, saugte die Luft tief in seine Lungen. Doch die Kälte raubte ihm den Atem sofort wieder.
Dann hörte er das Gelächter und drehte sich um, blinzelte die Tropfen fort, die von seinen nassen, schwarzen Haaren über sein Gesicht perlten. Der Rattenkönig hielt sich vor Gelächter den flachen Bauch, seine verbliebenen Kameraden ebenso. Sie wirkten nicht außerordentlich in Trauer über den Verlust ihres Freundes, aber sie hatten große Freude daran, Darcar weiter zu quälen.
»Ich bring dich um!«, brüllte Darcar wutentbrannt und – an Ermangelung anderer Möglichkeiten – spritzte er ihm eine Fontäne Wasser entgegen, die ihn nicht erreichte.
Darcar schwamm an den Rand, es waren nur zwei Züge. Er zitterte so stark am ganzen Leib, dass er sich kaum bewegen konnte, sein Körper wurde steifer und steifer, als ob er langsam zufror. Genauso fühlte es sich an, er erfror. Wenn er nicht sofort aus dem Wasser stieg und sich in eine trockene, warme Decke hüllte, würde niemand mehr nach Veland suchen. Zumindest niemand, der Gutes im Schilde führte.
Doch als Darcar den Rand packte, sprang der Rattenkönig heran und trat ihm auf die Finger. Darcar brüllte auf, zerrte seine Hand unter dem Fuß hervor, dabei schürfte er sich die Haut über den Knöcheln auf.
»Hurensohn!«, spie er aus. Dieses Wort hatte er noch nie in seinen Mund genommen, aber es fühlte sich gut an. »Lass mich raus!«
Der Rattenkönig lachte wieder, dann wurden seine dunklen Augen ernst. »Ich denke nicht im Traum daran, Mistgeburt!«
Der Wichser betrachtete ihn seelenruhig und sah dabei zu, wie Darcar langsam erfror. In seinen Augen konnte man lesen, dass er Freude und tiefste Genugtuung dabei verspürte.
Darcar sah ihn hasserfüllt an, dann versuchte er, an eine Stelle Kanal aufwärts zu schwimmen, selbstverständlich waren die Handlanger des Rattenkönigs schneller dort und wollten ihm wieder auf die Hände treten. Einer von ihnen hob ein paar Kieselsteine auf und bewarf Darcar damit, der einen Arm hochriss, um sein Gesicht zu schützen.
»Fickt euch!«, rief er. Etwas anderes als Beleidigungen blieb ihm nicht mehr übrig. Wenn er nicht aus dem Wasser käme, wäre es ganz schnell vorbei. Er spürte seine Füße kaum noch, sein Herzschlag wurde seltsam langsam, ruhiger. Er fühlte sich müde, vorher schon, aber plötzlich noch mehr.
Er könnte auf die andere Seite schwimmen, dort würden sie ihn nicht erreichen, nur müsste er dann wieder zurückschwimmen, um nach Veland zu suchen. Im Moment blieb ihm nichts anderes übrig, zumindest würde ihn der Kanal dann von dem Rattenkönig trennen.
»Wo willst du hin?«, riefen sie süffisant, lachten noch mehr, als er sich abwandte.
Seine Arme waren so steif, dass er kaum vorankam, die andere Seite schien eine Ewigkeit entfernt und wollte auch nicht näherkommen. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr, Steine prasselten regelrecht wie Regen auf ihn nieder, plumpsten ins Wasser neben ihn. Darcar war so schwach, so eingefroren, dass er immer wieder kurz untertauchte. Sein Kopf schmerzte bald darauf durch das eiskalte Wasser, als habe ihn jemand mit einem Hammer bearbeitet. Immerhin spürte er nun nicht mehr den brennenden Schnitt auf seiner Wange – oder seine schmerzende Nieren- und Magengegend. Genau genommen spürte er plötzlich gar nichts mehr.
»Schwimm ruhig rüber!«, rief ihm der Rattenkönig nach. »Und bleib da, während wir deinen Bruder aus seinem Versteck zerren. Lauf nur davon, Feigling! Nur zu! Dann nehmen wir eben erst ihn!«
Sie wollten, dass er umdrehte. »Ich bin kein Feigling«, knurrte er leise zu sich selbst. Tot würde er Veland allerdings auch nichts nützen. Er schwamm weiter, würde sich etwas einfallen lassen. Noch hatten sie Veland nicht!
Der Rattenkönig lachte ihn aus. »Seht doch wie er schwimmt! Gleich geht er unter wie ein Stein!«
»Und schwimmt dann als Eisscholle weiter«, kommentierte ein anderer.
Ihr Gelächter verstummte plötzlich, als ein seltsames Geräusch in den Straßen ertönte. Darcar nahm es selbst wahr, doch er konnte sich nicht fragen, was es zu bedeuten hatten. Er fixierte sein Ziel und musste sich konzentrieren. Nur mit Mühe und Not hielt er das Kinn über Wasser, plötzlich wurde ihm innerlich ganz seltsam warm, er wurde müde, konnte kaum