Wie stellen Sie sich dann zu dem sokratischen Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß?“
Eine Lüge, eine ganz freche Lüge! Sie tut in einem nihilistischen Zeitalter, in dem jeder stolz darauf ist, nichts zu wissen, nichts zu sein, nur zu suchen, nur zu fragen und verstehen zu wollen, allen gut und niemandem weh.
Es gibt keinen herrschaftsfreien Dialog oder Diskurs. Es geht immer darum, wer gewinnt. Was ich sage, sage ich immer aus Eigeninteresse und nicht für die Leute, weil ich es für richtig halte. Ich will Recht haben, und ich will gewinnen. Es gibt immer einen Gewinner im Dialog – im Falle des bewusst Paradoxen ausnahmsweise zwei.
Wie kann denn ein solcher Dialog noch konstruktiv sein? Ist er nicht vielmehr sinnlos?
Dialog soll nicht konstruktiv sein. Das, was sich konstruktiv nennt, ist die Verhärtung von männlichen Denk- und Machtstrukturen. Es ist die Folge einer männlichen Lebensangst, deren Resultat sogenannte Erkenntnis ist. Welchen Wert soll denn zum Beispiel die Richtigkeit haben? Richtigkeit ist doch nur eine Funktion der Entscheidung von Macht. Computer zum Beispiel können nur rechnen, weil sie sich permanent zwischen null und eins entscheiden.
Kommen wir noch einmal auf Sokrates zurück. Was war denn das Verbrechen des Sokrates?
Sokrates verübte verschiedene Verbrechen. Ein Verbrechen war sicher das, in der Jugend die Illusion zu wecken, dass man durch rein kognitive Anstrengung und deren Regelmechanismen Macht gewinnen und das ersetzen könne, was damals schon Politik genannt wurde. Also eine kybernetische Utopie des Philosophenstaats.
Aber war sein Problem nicht eher das, dass er zu erfolgreich war?
Nein – aber es gibt ja von Woody Allen eine schöne Version des Todes des Sokrates. Dort ist es so, dass ihn seine Schüler in den Tod treiben. Sokrates sagt, dass er eigentlich gar keine Lust habe jetzt zu sterben, und darüber hinaus sei er in Sparta zum Essen verabredet, worauf seine Schüler ihn darauf hinweisen, dass es doch schließlich um die Wahrheit ginge, derentwillen man den Tod auf sich nehmen müsse. Sokrates sagt daraufhin, dass er es so absolut nicht gemeint hätte. Die Wahrheit – das zeigt dieser Dialog von Woody Allen – ist nur ein Mythos oder eine Ideologie jenes doppelten Missverständnisses, das man Philosophie nennt. Es handelt sich um ein philologisches und um ein soziologisches Missverständnis.
Bisher wurde Philosophie immer mit „Liebe zur Weisheit beziehungsweise Wahrheit“ übersetzt. Allerdings hatte sophia bei den Vorsokratikern vielmehr die Bedeutung eines Abwesenden oder, sagen wir genauer, einer Abwesenden. Sophia hat mit Weisheit oder Wahrheit im Prinzip überhaupt nichts zu tun. Das soziologische Missverständnis besteht darin, zu glauben, dass die Philosophen schlauer seien. Denn heute wissen wir, dass es keine Berechtigung dafür gibt, dass sich einige unter dem Titel des Philosophen als besonders schlau betrachten dürfen. Das hat natürlich mit dem Tod des Sokrates zu tun, da die Griechen vielleicht auch schon dieser Meinung waren. Die Philosophie hat dieses Missverständnis nur institutionalisiert.
Aber kann man es denn nicht auch so betrachten, dass der Philosoph derjenige ist, der nicht im Besitz der Wahrheit ist, sondern derjenige, der sich beständig darum bemüht, diese zu erreichen?
Aber das ist ja gerade das Schlimme. Subjektiv strebt doch jeder nach Wahrheit beziehungsweise glaubt jeder, das Richtige zu tun. Ist es überhaupt sinnvoll, nach Wahrheit zu streben? Was haben wir denn damit gewonnen? Philosophie ist die Liebe zu einer nicht vorhandenen Frau namens Sophia. Bevor wir die Sophia durch „Wahrheit“ oder gar „Weisheit“ ersetzen, sollten wir uns darüber wundern, dass bisher nur Männer diesen Titel für sich in Anspruch genommen haben. Frauen behelfen sich mit den Diotimas aus der Philosophiegeschichte und führen nur einen männlichen Diskurs fort. Sie philosophieren ausdrücklich nicht als Frauen, sondern als „Menschen“ oder „Subjekte“, aus Rollen heraus, die ihrerseits vollständig von der männlichen Philosophie vorgegeben wurden. Sprich: Es gibt bisher keine weibliche Philosophie. Und wenn es sie gäbe, bestünde sie in der Auflösung der Philosophie, die nichts weiter ist als eine im besten Fall selbstreflexive Tätigkeit des Mannes. Sie ist eine in Frage zu stellende Anmaßung, solange sie sich allgemein gibt. Sie ist aber auch eine große Chance, denn in keiner Wissenschaft erfahren wir mehr über den Mann, sein Denken, seine unterdrückten Gefühle und seine Ängste.
Warum fehlt dem Philosophen die Frau? Wofür steht die Frau?
Für das Abwesende, für das Fremde, dem „Mann“ nicht näher kommen kann. Das Andere ist aus anthropologischer Sicht für den Mann die Frau. Gott ist nur ein alternatives Anderes für den Fall, dass keine Frau vorhanden ist. Die Philosophie, die ja die abwesende Frau sucht, ist eine resignative Reaktion auf diese Abwesenheit: Vielleicht ist ja die Frau unauffindbar. Die Konsequenz heißt dann Homosexualität. Deshalb ist die männerbündische, homosexuelle Philosophie mit Sicherheit die selbstreferenziellste und ehrlichste, zugleich aber die verdorbenste, weil sie mit dem Ausschluss der Frau das Gelingen der Polis verhindert.
Wie kann ein Suchender, ein Student, das Abwesende – die Frau – finden? Was würden Sie jemandem empfehlen, der die Philosophie sucht?
Wer Philosophie sucht, sollte die Sophia suchen, nicht die Weisheit oder die Wahrheit. Noch besser ist es natürlich, direkt die Frau zu suchen. Sie, diese Andere, ist eine metaphysische Sache.
Auf wissenschaftlichem Wege kann er sie ganz bestimmt nicht finden. Der Platoniker wird sagen: „Ich will sie ja gar nicht finden“; wir nennen das dann „platonische“ Liebe. Aber selbst der Weg zur Weisheit führt nur über die Frau. Vielleicht ist die Weisheit ein Weib, schreibt Friedrich Nietzsche, das Gründe hat, sich nicht sehen zu lassen. Ein guter Grund wäre der Auftritt eines „Philosophen“.
Wenn ein Mann eine Frau gefunden hat, erübrigt sich die Suche nach der Sophia. Philosophie ist sozusagen eine Junggesellentätigkeit, die in der Universität als ewige Tertia institutionalisiert wird. In einer bestimmten Lebensphase kann es sehr hilfreich sein, sich mit der akademischen philosophischen Tradition zu beschäftigen. Ich kann jedoch immer nur hoffen, dass diese Phase vorübergeht. Man bleibt ja auch nicht sein ganzes Leben in der C-Jugend oder in der Rockband. Wer sein Leben lang nur in der Philosophie bleibt, ist gestört, wobei man in diesem Zusammenhang immer von der Störung der Beziehung von Mann und Frau sprechen sollte, sonst verfehlt man den Kern des Problems.
Ist Philosophie eine Therapie?
Wenn man damit meint, dass man sein Leben als Mann bewusst begleitet, dann kann sie eine Therapie sein.
Sie sprechen die Philosophie des Anderen an. Wie stehen Sie zur Philosophie von Emmanuel Levinas oder Martin Buber?
Das „Dialogische Prinzip“ ist einer von vielen männlichen Versuchen, das Andere zu abstrahieren. In der Theologie wird das Andere dann zu Gott. Diese Abstraktionen resultieren aus einer Angst der Männer vor der Frau.
Das Andere kann aber auch das „Denken des Außen“ sein, wie Michel Foucault es propagierte, im Grunde Astronautentum. In der Philosophie gab es zuerst die schwule Philosophie der Antike, dann kam der asexuelle, skurrile Hauslehrer wie René Descartes oder Immanuel Kant, bis dann endlich Nietzsche am Ende dieses Prozesses, den man Philosophiegeschichte nennt, sich nichts sehnlicher wünschte, als die Frau Lou Salome zu bekommen. Er bekam sie nicht. Aus dieser Enttäuschung heraus rekapituliert er die gesamte Philosophiegeschichte. Es reicht also völlig aus, Nietzsche zu kennen, um die gesamte Philosophiegeschichte zu kennen. Nietzsche hat die Philosophie als historischen Prozess abgeschlossen. Seine eigentliche Leistung besteht in der Aufhebung der Differenz zwischen Philosoph und Welt – sie besteht in der Umarmung eines Pferdes in Turin. Danach, so geht die offizielle Philosophiegeschichte, wurde er verrückt. Doch eigentlich passierte nichts anderes, als dass er von seiner männlichen Astronautenreise, die Philosophie hieß, in die Arme von