In Ihrem Buch Die Kritik der zynischen Vernunft kritisieren Sie das westliche Ich-Denken, das Jacques Lacan als „die Geisteskrankheit des Westens“ bezeichnete.
Ich bin nicht sicher, ob ich das heute noch in derselben Weise sagen würde. Ich höre in dieser Art von Ich-Kritik, die von Augustinus bis Lacan reicht, doch immer wieder nur das katholische Gemeckere gegen den sündhaften Stolz des Menschen heraus, und mir scheint das kein fruchtbarer Ansatz mehr zu sein. Es ist die gute alte Anti-Egoismus-Propaganda, die zu allen klerikokratischen Systemen (Priesterherrschaften) gehört. Klerikokratie beruht darauf, dass man die Menschen als Egoisten diagnostiziert und vorgibt, ihnen bei der Überwindung dieser tödlichen Krankheit zu helfen. Das Ego ist aber nicht die Krankheit des Westens, es ist die Krankheit von Menschen in klerikokratischen Systemen. Die Psychoanalyse französischen Typs war hoffentlich die vorerst aktuellste Zuspitzung dieser Tradition. Lacans Psychoanalyse verkörperte in gewisser Weise den Versuch, die Psychoanalyse von ihren jüdischen Tönungen abzulösen und sie in katholische Resonanzen zu übersetzen. Der gemeinsame Nenner hier wie dort ist der Patrozentrismus, eine inzwischen sozialgeschichtlich und psychohistorisch überholte Figur, die das Judentum, das katholische Christentum und die Wiener und Pariser Psychoanalyse gemeinsam hatten und die sie gemeinsam restaurieren möchten. Der junge Lacan stand bekanntlich der Action Française nahe, und der Mensch, dem er sich zeitlebens am nächsten fühlte, war sein Bruder, ein Trappistenmönch. Er kam aus einem rechtsradikalen Umfeld, in dem an einem Katholizismus ohne Gott, einem atheistisch-katholischen Law-and-Order-Syndrom gebastelt wurde: Gott ist tot, aber die Ordnungsstrukturen, die er geschaffen hat, die lassen wir uns nicht nehmen – aus ihnen wird eines Tages das vielzitierte Symbolische. Kurzum, der Hinweis auf das Ich als Krankheit des Westens führt uns nicht weiter. Man bleibt damit in dieser 2000-jährigen Klerikokratie gefangen, in der man den Menschen als Sünder oder Neurotiker a priori behandelt.
Wie steht es um das Verhältnis der Philosophie zum Zeitgeist? Geht es in der Philosophie nicht ganz im hegelschen Sinne darum, ihre eigene Zeit auf den Begriff zu bringen?
Ich würde jedenfalls nicht sagen, dass es eine immer gleichbleibende Aufgabe der Philosophie gibt, sie muss sich ihre Aufgaben in jeder Generation von neuem suchen. Was die Philosophie als Lebensform angeht, so betrifft sie seit jeher nur die Einzelnen und hat folglich keine andere Mission als die, die Individuen in ihr Optimum zu bringen. Nach der politischen Seite hin ist ihre beratende Funktion virulenter denn je. Was mir vorschwebt, ist ein Forum für Philosophie als zivilisatorisches Pädagogicum. Sie muss die Rolle einer Moderatorin im Übergang zur Weltkultur spielen lernen, ausgehend von der Einsicht, dass es keinen Zusammenstoß der Zivilisationen gibt, sondern den Zusammenstoß der lokalen Kulturen mit dem Zivilisationsprozess.
Welche Bedeutung hat das Scheitern für die Philosophie? Ist die Philosophie nur die Kunst des gekonnten Scheiterns?
So weit sollte man doch nicht gehen. Immerhin, es gab in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich eine philosophisch betreute Kunst des Scheiterns. Das hat damit zu tun, dass die Deutschen den Existenzialismus lange vor den Franzosen entwickelt hatten, während die Franzosen ihn erst unter der deutschen Okkupation kopierten. Die Unterschiede sind erheblich: Die Deutschen waren seit jeher Trotz-Existenzialisten mit anthropologischen Interessen, die Franzosen hingegen wurden Widerstands-Existenzialisten mit politischem Fokus. Die Franzosen haben von unserem Existenzialismus, nach welchem am Anfang die Behinderung war, nur das Moment des politischen Widerstands herausgefiltert, ohne zu merken, dass hinter dem Konzept „résistance“ das viel breiter angelegte heroische „Trotzdem“ stand. Darüber habe ich einen größeren Aufsatz geschrieben, dessen Thema mich mit sehr anregenden Umkehrungen gewohnter Fragestellungen vertraut gemacht hat. Ich habe einen seltsamen Autor aus den 20er, 30er Jahren ausgegraben, einen Nietzscheaner namens Hans Würtz, den Vordenker der deutschen staatlichen Krüppelpädagogik und Pionier einer neuen Disziplin, die man geradewegs die Krüppelanthropologie nannte. Bei ihm kann man sehen, was aus Nietzsches Denken wird, wenn man es in einem Behindertenheim zu Berlin jeden Tag auf die Probe stellt. Hier wurde erst klar, was das Theorem vom Leben als Wille bedeuten kann. In Deutschland gab es nach dem Ersten Weltkrieg 2,7 Millionen Kriegskrüppel, Einarmer, Einbeiner, Kopfverletzte, eine Enzyklopädie unvorstellbarer Dramen. Behinderung war damals das Epochenthema – und wenn Freud seinerzeit vom Menschen als Prothesengott sprach, griff er das Bonmot aus dem Zeitgeist auf. Auch Würtz hat damals Morgenluft gewittert und geglaubt, der Krüppel sei der neue Mensch, ja vom Krüppel her müsse man die ganze Menschheitsfrage neu denken. Er blätterte in den Archiven und fand heraus, dass alle interessanten Menschen aller Zeiten Krüppel waren: Cäsar, Paulus, Michelangelo, Ignatius von Loyola, Lord Byron, Nietzsche, das ganze Who is who der Weltkultur. Würtz wurde 1933 eliminiert, weil er in seinem Hauptwerk Zerbrecht die Ketten von 1932 die schlechte Idee gehabt hatte, Joseph Goebbels zweimal zu erwähnen – einmal in der Nationenliste und einmal in der Funktionen- oder Berufsspartenliste. Mit dieser Art von wissenschaftlicher Objektivität konnte Goebbels nicht viel anfangen. Mir fiel es bei der Lektüre dieses verschollenen Werks wie Schuppen von den Augen: Alle wesentlichen Autoren der philosophischen Anthropologie haben damals angefangen, den Behinderten als Paradigma des Menschen darzustellen, Louis Bolk, Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, selbst Sigmund Freud, wie gesehen. Und hat nicht auch die zeitgenössische Biologie diese Lesart bestätigt? Der Mensch ist von Natur aus eine Missgeburt, weil er eine chronische Frühgeburt darstellt. Nur Krüppel werden überleben.
Solche biologischen Fragen spielten auch in Ihrer sogenannten Elmauer Rede eine Rolle.
Darüber brauchen wir nicht lange reden. Mein 2009 erschienenes Buch trägt den Titel Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Darin werden die Fragen, die mich in der Menschenpark-Rede beschäftigt haben, auf indirekte Weise noch einmal aufgerollt. Diesmal aber gehe ich der Frage, wie der Mensch den Menschen erzeugt, viel radikaler auf den Grund. Die Antwort wird heißen: Er erzeugt sich im Wesentlichen durch Übungen, durch Askesen, durch Training und durch akrobatische Überspannungen. In diesem Buch wird nur sehr wenig von Gentechnik die Rede sein, umso mehr von Meditation, von religiös codierten Übungsexzessen, von Kapitalismus als Anthropotechnik und von der Disziplin großer Künstler.
Der Zeitgeist gibt den Philosophen im Augenblick sehr viele ermutigende Signale. In Frankreich gibt es in jeder Stadt philosophische Cafés. In Italien blühen in einer Reihe von Städten, in Udine, in Modena, in Neapel, in Rom und so weiter große Philosophiefestivals auf, manchmal mit Zehntausenden von Besuchern. Da kann man erleben, wie mehrere tausend Menschen auf einem Platz unter freiem Himmel sitzen und einem Vortragenden zuhören. Für jeden Philosophen ist das eine Erfahrung, die er machen sollte. Wenn man in einem kleinen Hörsaal voller Kollegen spricht, hat man das Recht, sie bis zum Umfallen zu langweilen. Aber vor zwei- oder dreitausend Menschen – da fragt man sich unwillkürlich: Ist meine Rede es wert, dass so viele Leute eine Stunde in der glühenden Sonne sitzen? Ganz offensichtlich wollen die Leute zurück zur Philosophie. Sie wollen etwas hören, was ihnen zu denken gibt. Die Akademiker ihrerseits müssten nur besser auf das hören, was ihnen von dieser Seite zugerufen wird. Damit fallen viele Scheinkonflikte an der Front zwischen Philosophie und Rhetorik beiseite, auch solche, die gelegentlich im Umfeld meiner Arbeit auftraten.
JÜRGEN MITTELSTRASS