Er sagt, er habe mit Juristen diskutiert, die ihm hätten weismachen wollen, ein Vergewaltiger, der seine Strafe von zwei oder drei Jahren abgesessen habe, habe das Recht, nochmals eine Vergewaltigung zu begehen, für die er dann natürlich wieder zu bestrafen sei. Das entspreche der Logik, der dogmatischen Schuldtheorie. »Er dürfe es jetzt wieder machen, dann kriege er das nächste Mal vier Jahre. – Ich muss sagen, das sehe ich anders«, sagt Urbaniok bestimmt.
»Haben Sie deshalb die Verwahrungsinitiative von Anita Chaaban unterstützt?«
»Das Bedürfnis, das dahinter stand, verstehe ich total. Ich war Anfang 1998 in St. Margrethen an einer Auftaktveranstaltung. Da waren Betroffene. Eine Mutter hatte sich gemeldet, die hat einen Sohn durch einen Kindermörder verloren. Das waren Opfer. Die haben eine ganz einfache Frage gestellt: Wie könnt ihr uns garantieren, dass so etwas wie Hauert nicht nochmals passiert? Das waren deren Fragen. Politisch waren die nicht.«
Unglücklicherweise seien sie von rechts instrumentalisiert worden. Das sei nicht von Anfang an so gewesen. »Gerade Frau Chaaban, die ich gut kenne, die hat irgendwann das Visier runter geklappt und gesagt, jetzt könnt ihr mich alle mal. Und dann hat alles eine Rechts-links-Schlagseite bekommen. Ich habe das sehr bedauert.« Er findet, Frau Chaaban habe etwas Wahnsinniges geleistet mit der Initiative. Der Text sei juristisch problematisch. Es hätte Chancen gegeben, das besser zu machen. An Hearings hätten Strafrechtsprofessoren Frau Chaaban aber nicht ernst genommen, so im Stil von ›da gibt es in der EMRK diesen und jenen Paragrafen, davon verstehen Sie als Hausfrau natürlich nichts, ich muss das jetzt hier mal kurz erläutern‹. Das war der Duktus.«
Urbaniok hat viele Männer gesehen, die schlimme Taten begangen haben. Wie viele würde er für immer wegsperren?
»Wenige. Ich kann keine genaue Zahl sagen.«
»Ist die Zahl eher zwei- oder dreistellig?«
»Eher im zweistelligen Bereich. Aber es sind auch mehr als nur drei oder vier Personen.«
Das Gespräch ist fast zu Ende, da bemerkt er: »Ich habe eine schwere Erkrankung. Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben.«
Ich habe davon gehört und frage, wie es ihm geht.
Er klopft auf den Tisch. »So weit, so gut …«
Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er sei durch die Hölle gegangen. Aber er habe nie damit gehadert. »Nicht dass ich es gut finde – aber es ist, wie es ist. Man muss es annehmen. Ich will nicht klagen. Es könnte sehr viel schlechter sein. Ich könnte auch schon tot sein.«
Seine Funktion als Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes hat er aufgegeben.
5Ilg und der Nazi
Walo C. Ilgs Wohnung ist eingerichtet wie ein Museum.
Mit edlen Möbeln aus dem 19. Jahrhundert. Von einer Wand schaut ein schneidiger Militär mit gezwirbeltem Schnauzbart. »Napoleon der Dritte«, sagt Ilg. Darüber hängt noch ein kleineres Bild von Napoleon III., eines, dass es tausendfach gab, damit sich auch gewöhnliche Leute einen Napoleon im Wohnzimmer leisten konnten.
Seit vierzig Jahren arbeite Ilg an einem Napoleon-Buch. Napoleon III. lebte im Schloss Arenenberg im Kanton Thurgau, bevor er Präsident und dann Kaiser von Frankreich wurde. Ilgs Großvater, Konrad Ilg, war ein einflussreicher Gewerkschafter. Er stammte aus der Nähe des Arenenberg. Als Kind begleitete Walo seinen Großvater oft, wenn der in seine alte Heimat fuhr. Der kleine Walo trieb sich gerne im Schloss herum. Seither fasziniert ihn Napoleon III.
Ilg lebt heute in Bern, ist ein stattlicher Mann, elegant gekleidet, mit gepflegtem Schnauz- und Spitzbart. An diesem heißen Septembermittag setzt er sich einen Strohhut auf, bevor wir ins Quartierrestaurant gehen.
Als Anwalt hat er einige große Prozesse geführt, war auch Vertrauensanwalt der Gewerkschaften. Heute hat er noch einige Klienten, die schon lange im Gefängnis sitzen. Er selbst war auch einmal in Haft, wegen Veruntreuung; aber das ist lange her. Seit er pensioniert ist, arbeitet er als ehrenamtlicher Jurist für Reform91. Die Organisation ist vor vielen Jahren von einigen Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg gegründet worden. In der Öffentlichkeit kennt man vor allem Peter Zimmermann, einen der Gründer von Reform91. Zimmermann hat sich regelmäßig bei den Medien gemeldet. Er war für die Gefangenen eine zuverlässige Verbindung nach draußen. Zimmermann wusste immer, wann, wo und warum ein Gefangenenstreik stattfand. Er war es auch, der Peter Vogt rund um seinen Exit-Wunsch beraten hat.
Seit Monaten war es jedoch ruhig geworden um Zimmermann. Es kamen keine Mails und keine Infos mehr. Einmal noch hatte seine Lebensgefährtin ausrichten lassen, Zimmermann habe gesundheitliche Probleme. An diesem Mittag bei Spaghetti und einem Glas Rotwein erzählt Ilg, dass es komplizierter sei. Zimmermann werde in wenigen Tagen vor Gericht erscheinen müssen. Er sitze in U-Haft, weil er einen Jungen missbraucht haben solle.
Ilg zweifelt an der Geschichte des Jungen, aber es ist müssig, darüber zu diskutieren. Falls Zimmermann verurteilt werde, das sagt Ilg schon an diesem Mittag, habe Reform91 ein gröberes Problem.
Das Gericht hat dem Jungen geglaubt und Zimmermann zu dreißig Monaten Gefängnis verurteilt. Nach vielen Jahren war Zimmermann wieder zum Rückfalltäter geworden.
Das ändere nichts an seiner Überzeugung, sagt Ilg, dass Fotres, aber auch die anderen Prognoseinstrumente wertlos seien. »Man wird in eine Gruppe eingereiht – aber nicht für das, was man begangen hat, sondern für das Potenzial, das man hat.« Die forensische Psychiatrie tue so, als ob sich die Gefährlichkeit eines Berges allein aufgrund der Neigung des Geländes beurteilen ließe. »Dabei kann auch ein nicht so steiler Berg gefährlich sein, wenn viel Geröll da ist.« Die Forensiker machten, so Ilg, dasselbe, was Cesare Lombroso vor über hundert Jahren demonstriert habe, Verbrecher vermessen.
An einem Dezember Morgen im Jahre 1870 untersuchte Lombroso den Schädel eines berühmten Mörders. Da überkam ihn eine Vision. »Beim Anblick dieses Schädels schien es mir, als sähe ich plötzlich, wie eine weite Ebene erhellt von einem flammenden Himmel, das Problem der Natur des Verbrechers vor mir liegen – eines atavistischen Wesens, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschen und der niederen Tiere reproduziert. So erklärten sich anatomisch die riesigen Kiefer, die vorstehenden Wangenknochen, die Knochenwülste der Augenbrauen, die vereinzelten Handlinien, die Übergröße der Augenhöhlen, die henkelförmigen Ohren, wie sie bei Verbrechern, Wilden und Affen zu finden sind, die Schmerzunempfindlichkeit, die extreme Sehschärfe, die Tätowierungen, der übertriebene Müssiggang, die Vorliebe für Orgien und die verantwortungslose Sucht nach dem Bösen um des Bösen willen, der Wunsch, nicht nur das Leben des Opfers auszulöschen, sondern auch die Leiche zu verstümmeln, ihr Fleisch zu essen, und ihr Blut zu trinken.«
Lombroso ordnete die Menschen einem Straftätertypus zu. Große Nase, fliehende Stirn, eng beieinanderliegende Augen – über das Äußere las er die Gefährlichkeit ab. Das war das Vermächtnis von Cesare Lombroso. Die Ideologie des Nationalsozialismus war getränkt von dieser Logik.
»Früher haben sie Gesichter vermessen«, sagt Ilg, »heute vermessen sie die Psyche.« In den Gutachten stecke so viel Ideologie. »Ein autoritäres Menschenbild führt zu ganz anderen Resultaten als ein emanzipatorisches Menschenbild.«