Als Thomas N. vor Gericht stand, saß ich im Saal. Der Medienrummel war enorm. Alle warteten auf eine Erklärung für die unfassbare Tat. Daraus wurde nichts. Der Täter stammt aus behüteten Verhältnissen, liebte seine Hunde, trainierte die Jungen des lokalen Fussballklubs. Er war der normale Schweizer von nebenan. Nie auffällig, mal abgesehen davon, dass er immer noch bei seiner Mutter wohnte. Als er sein Studium abgebrochen hatte, schaffte er es nicht, dies seiner Mutter zu erzählen. Er führte ein Doppelleben, verbrachte viel Zeit im Internet, konsumierte Kinderpornografie und entwickelte Gewaltfantasien. Mehr war vor Gericht nicht zu erfahren. Er selbst wirkte kalt oder niedergeschlagen. Das ließ sich so genau nicht auseinanderhalten. Auch versuchte er mehrmals, sich zu entschuldigen für das, was er den Opfern und deren Angehörigen angetan hatte. Was nicht funktionieren konnte. Für diese Morde gibt es keine Entschuldigung. Aber auch das sagte er vor Gericht, dass er das wisse und verstehe und dass er seine Tat durch nichts wiedergutmachen könne. Man ging aus dem Gerichtssaal und hatte überhaupt nichts kapiert. Ein netter junger Mann wird aus dem Nichts zum Monster.
Ist er einfach böse? Psychisch krank? Kann man so jemanden therapieren?
Urbaniok kommt in Fahrt. Das Rupperswiler Beispiel illustriere, weshalb man in der Forensik mit Diagnosen nicht weiterkomme. Im Fall Thomas N. haben zwei Psychiater unabhängig voneinander ein Gutachten verfasst. Beide haben Diagnosen gestellt, die sich am ICD-10 orientieren. ICD ist die Abkürzung von »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems«, ein Verzeichnis, das alle Krankheiten auflistet und definiert. Es ist die zehnte Version, bald wird die elfte publiziert, das wird dann die ICD-11 sein. Die Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht diese Liste.
Beide Psychiater, die Thomas N. begutachteten, finden eine Persönlichkeitsstörung. Der eine diagnostiziert eine »zwanghafte Persönlichkeitsstörung«, der andere eine »narzisstische Persönlichkeitsstörung« – was zwei vollkommen unterschiedliche Diagnosen sind. Einem zwanghaften Menschen sind Perfektionismus und ständige Kontrolle wichtig. Er fürchtet sich krankhaft davor, Fehler zu machen. Dem Narzisst fehlt die Empathie. Er überschätzt sich ständig, will, dass alle ihn bewundern, und reagiert stark gekränkt, wenn die Bewunderung ausbleibt. Die beiden Krankheiten haben in der Logik des IDC-10 so viel gemeinsam wie Diabetes mit Bluthochdruck. In einem Punkt sind sich die beiden Psychiater jedoch einig: Thomas N. leide an einer »Störung der Sexualpräferenz« und sei »kernpädophil«.
Beide Gutachter hätten den Deliktmechanismus überhaupt nicht erklären können, sagt Urbaniok. Trotzdem kämen sie zu dem Schluss, der Mann sei therapierbar. »Wenn sie sagen würden, die narzisstische Persönlichkeitsstörung – lassen wir mal dahingestellt, ob er eine hat oder nicht – sei der Grund für die Tat, dann hätten wir jede Woche ein solches Delikt, weil es viele Menschen mit narzisstischen Störungen gibt. Die ›sexuelle Präferenz‹ erklärt den Deliktmechanismus auch nicht. Pädophile sind zu 99 Prozent nicht gewalttätig. Das finde ich das Gefährliche an diesen Diagnosen. Es gibt in ihnen eine Scheinplausibilität. In der Bevölkerung vermischt sich das dann. ›Da ist dieser Pädophile, der irgendwas Schlimmes gemacht hat, und das ist gefährlich.‹ Das wäre so, als würden sie angesichts eines heterosexuellen Mörders sagen: Die Heterosexuellen bringen dauernd jemanden um. Für einen Pädophilen ist diese Gewalt aber etwas total Untypisches, wirklich total untypisch.« Die Gutachten hätten überhaupt nichts erklärt. Also müsse man auch offen dazu stehen.
Urbanioks These lautet: Wenn der Deliktmechanismus nicht erklärt werden kann, lässt sich nichts zum künftigen Risiko sagen. Dann kann man auch nicht prognostizieren, ob jemand therapierbar sei. Man weiß ja gar nicht, was man therapieren soll, damit das Risiko sinkt. Aus Sicht von Urbaniok ist daher die Einschätzung zur Therapierbarkeit des Täters in beiden Gutachten falsch. »Es ist, wie wenn ein Spezialist bei Thomas N. eine Schilddrüsenerkrankung diagnostizieren würde. Nun schließt der Spezialist daraus, dass Thomas N. therapiefähig ist, weil man Schilddrüsenerkrankungen grundsätzlich therapieren kann. Nur hat die Schilddrüsenerkrankung nichts mit dem Delikt zu tun.«
Seine Kritik hatte Urbaniok öffentlich gemacht. Man empfand das als arroganten Versuch, das Gericht zu beeinflussen und die Gutachter zu demontieren.
Fotres ist wie ein Entscheidungsbaum. Aus Sicht von Urbaniok hilft es den Gutachterinnen und Therapeuten, durch alle relevanten Fragen zu navigieren.
»Die Fotres-Auswertung wird dem Gutachten einfach beigelegt. Jeder Anwalt kann das nachvollziehen und nachfragen, wenn er mit einer Wertung nicht einverstanden ist. Wenn dann eine Diskussion entsteht, finde ich das richtig. Die muss kommen. Ein Gutachter muss begründen können, was er macht.«
Sein Ziel sei Transparenz. Dem Vorwurf, er habe intransparente Algorithmen ins Programm eingebaut, entgegnet er sachlich wie ein Informatiker: »Es gibt in Fotres keine Algorithmen.« Man könne Fotres auch ohne Computer anwenden. Manche würden nur mit dem Handbuch arbeiten.
Die einzelnen Eigenschaften werden allerdings gewichtet. Das System bietet eine Skala von 0 bis 4 an. 0 steht für »nicht vorhanden«, 2 für »moderat«, 4 für »sehr hoch«. Urbaniok erklärt: »Nehmen wir an, der Gutachter hat die Risikoeigenschaft ›Dominanzproblematik‹ gewählt – das sind Personen, die versuchen, andere Menschen und Situationen zu kontrollieren und die Bedürfnisse anderer Menschen ignorieren. Das Fotres-Programm fragt nun die Anwender:innen: Wie ausgeprägt ist bei diesem Täter die Dominanzproblematik? Ist sie gering, setzt der Gutachter eine 1. Danach fragt Fotres: Wie relevant ist diese Eigenschaft für das Risiko? Dem Gutachter steht erneut die Skala von 1 bis 4 zur Verfügung.«
»Kommen dabei nicht unterschiedliche Resultate raus? Je nachdem, wie ein Gutachter gewichtet?«
»Ja, das ist richtig.«
»Das Ergebnis hängt also vom Gutachter ab?«
»Da kann es Unterschiede geben. Die Wertung ist aber transparent. Und weil die Bewertung bis in die einzelnen, klar definierten Kriterien nachvollzogen werden kann, kann man sie diskutieren und korrigieren.«
Das ist Urbanioks Credo. Deshalb hält er überhaupt nichts von Gutachtern, die mit eigenen Begrifflichkeiten ohne Kriterienkatalog aus dem Bauch heraus arbeiten: »Das ist sehr fehleranfällig, häufig intransparent und kann nur schwer überprüft werden.«
Am Ende dieses Prozederes gibt Fotres eine Zahl zwischen 1 und 4 aus. Auch hier gilt: 1 steht für ein »geringes« Rückfallrisiko 4 für ein »sehr hohes«. Übersetzt bedeutet das, bei 1 ist das Risiko, dass eine Person wieder ein vergleichbares Delikt begeht, verglichen mit der Normalbevölkerung, sehr klein. Bei einer 4 sieht es ganz anders aus; da sei das Risiko sehr hoch, sofern die Person keine entsprechende »risikosenkende Therapie« bekomme, wie Urbaniok sagt.
Welchen Einfluss hatte der Fall Hauert auf sein Modell?
»Vor dem Fall Hauert sind Verwahrte nach zwei bis drei Jahren entlassen worden. Da hatten wir satte Rückfallraten, sehr satte. Das ist das eine Extrem gewesen. Die Rückfälligkeit allein ist aber noch kein Indiz dafür, ob jemand gefährlich ist oder nicht. Ich sage das bewusst pointiert. Die Welt zerfällt ja nicht in Menschen mit Nullrisiko und Menschen mit hundert Prozent Risiko. Die Leute haben ein Risiko von dreißig oder sechzig Prozent.«
»Wie viel tolerieren Sie?«
»Nehmen wir an, Sie haben zwei Personen mit einem Fünfzig-Prozent-Risiko, islamistischer Selbstmordattentäter zu werden. Wenn Sie beide entlassen, wird genau einer Selbstmordattentäter, der andere nicht. Aber beide haben dasselbe Risiko. Ich mache es noch ein bisschen gemeiner: Ich nehme nicht zwei, ich nehme zehn Personen, alle haben ein Fünfzig-Prozent-Risiko. Fünf machen die Tat, fünf machen sie nicht. Nehmen wir