Geh's noch Gott?. Paulus Terwitte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paulus Terwitte
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783897109711
Скачать книгу
Leben solche Schicksalsstunden auch kennst.

      Bei der Frage nach dem Schicksal und ob wir davon auch bestimmt sind, schwingt natürlich auch immer eine negative Konnotation mit. Wir hören dieses Wort mit einer negativen Färbung: „Das ist aber ein schweres Schicksal“ oder „Der hat aber ein schweres Schicksal“. Ich habe noch nie gehört, dass jemand gesagt hat: „Der hat aber ein gutes Schicksal! Der hatte aber ein glückliches Schicksal!“ Sondern Schicksal hören wir immer negativ, und darum ist es mir wichtig, jetzt im ersten Schritt dir bewusst zu machen, dass unser ganzes Leben ein Schicksal ist. Es ist uns alles geschickt, und wir haben uns nichts selber genommen. Was wir uns selber genommen haben, konnten wir uns nehmen, weil uns vorher etwas geschickt worden ist. Also: Niemand hat sich selber die Brust gegeben. Und niemand hat sich selber gestreichelt und im Arm getragen und niemand hat sich das Wissen dieser Welt angesammelt, das es gibt, sondern wir pflücken es als Früchte einer Menschheitsgeschichte. Es ist einfach unser Schicksal, Eingebundene zu sein. Wir sind alle Erben. Wir sind alle irgendwie eingebunden.

      Jetzt kommen wir zum Nächsten: Es wird uns geschickt – ja, von wem wird es uns geschickt? Das steckt ja eigentlich hinter dieser Frage. Von wem wird uns das Schicksal geschickt? Da heißt meine erste Antwort ganz prosaisch: vom Leben selbst. Ich bin nicht dreimal von der Wickelkommode gefallen, andere sind es und beklagen sich ein Leben lang darüber, dass sie zu kurz gekommen sind und deswegen brauchen sie nicht … Mein Papa zum Beispiel hat nie dran gedacht, dass ich mal Klavier spielen lerne. Mein Schicksal ist also, dass ich kein Klavier spielen kann, und jedes Mal, wenn ich vor einem Piano stehe oder einer Orgel, dann denke ich mir: „Was für ein Mist, dass ich das nicht lernen konnte! Schrecklich! Diese schönen Toccaten und Fugen von Bach! Mein Schicksal ist ein grausames, dass ich das nie spielen kann … furchtbar!“

      Es gibt viele Menschen, die ein Detail so aufblasen, dass es alles andere zudeckt. Diese Schicksalsklägerinnen und -kläger, die über ihr Schicksal klagen, sind Menschen, die sich von der Werbeindustrie, von der Fit-und-Schön- und Lustig-Industrie die ganze Zeit erzählen lassen, Leben sei, den ganzen Tag fit zu sein, lustig zu sein, einen Body-Maß-Index von Y zu haben, ein Einkommen von X zu haben und auf 87,9 Quadratmetern im Grünen am See ohne Nachbarn zu leben, aber gut eingebunden zu sein in eine tolle Nachbarschaft. Ich weiß nicht, welche widersprüchlichen Sachen aufgeblasen werden, dass Leute so eine Art Schicksal empfinden, sie seien zu kurz gekommen. Nein, das Leben, wie es an uns herantritt, ist erst mal ein Geschick, das niemand sich ausgesucht hat.

      Und dann kommt die Frage: „Ja, und der liebe Gott? Wo bleibt jetzt eigentlich der liebe Gott bei dem ganzen Schicksal?“ Da habe ich etwas ganz Grundsätzliches, was es mir möglich macht, ein Leben ohne Orgelspielenkönnen zu führen: Ich sage mir sage, in der Welt ist eine echte Kreativität. Solch ein Buch wie dieses zum Beispiel kommt ja nicht vom Himmel. Da werden schlaue Fragen überlegt, ich schreibe etwas auf, es wird verarbeitet und lektoriert … Das kennst du doch auch: Niemand kann alleine, was er kann. Es ist also eine ungeheure Kreativität in der Welt, und dann ist meine Grundüberzeugung, dass sich in dieser Kreativität Gottes Wille und Gottes Kraft zum Ausdruck bringen. Ich sage das ganz bewusst, und das soll sich jetzt gar nicht nur so triumphalistisch anhören. Ich bin ja auch Hospizhelfer, Sterbebegleiter, Seelsorger – auch in Situationen, in denen sich der Konflikt zuspitzt, der Tod anklopft, die Krankheit tatsächlich über das Leben eines Menschen herfällt, auch da bin ich in einer Haltung, die sagt: Hier fügt sich etwas zusammen, das soll so sein. Auch wenn man das im Augenblick nicht erkennt.

      Es ist ja auch merkwürdig, dass Menschen, wenn sie auf ihr Leben zurückschauen, eine Haltung entwickeln können, versöhnt zu sein mit dem, was gewesen ist. Ich erinnere mich an den Besuch bei zwei 89-Jährigen. Die Frau sagte: „Ich habe den Turm der Stephanskirche in Mainz zusammenfallen sehen als Neunjährige. Ich habe das gesehen, und das verfolgt mich.“ Und dann nahm sie das mit durch ihr Leben, fand einen Mann, mit dem sie gemeinsam durchs Leben ging, und ich habe gespürt, dass sie, obwohl das Grauen dieser Erinnerung immer noch da war, sie es angenommen hatte als ein Grauen, das in ihrem Leben einfach prägend sein darf. Sie sagte: „Bei uns wird keine Kartoffelschale weggeworfen. Wenn wir einkaufen, dann koche ich hier mit meinem Mann alles zu Ende. Unser Bioeimer ist leer, weil ich aus diesen Nachkriegsjahren komme.“ Was für ein Schicksal, würde man da sagen, und doch sind diese Menschen, an die ich jetzt gerade denken muss, versöhnt mit dem, was in ihrem Leben gewesen ist, und haben daraus etwas gemacht.

      Insofern würde ich auf die Frage nach diesem Schicksal und ob Gott es mir schickt, fast mit etwas Vorsicht sagen: Ja, wenn ich davon ausgehe, dass alles, was geschieht, sich so zusammenfügt, dass daraus wieder etwas Neues und Kreatives werden kann. Vielleicht schaust du mal selber in dein Leben hinein und denkst an die Zeiten, von denen du sagst: „Das war echt ein schweres Schicksal!“ Die Mutter zu früh verstorben, ein Geschwisterteil durch einen Unfall getötet, Leukämie gekriegt … Ich kann eine ganze Litanei runterbeten, und ich weiß nicht, was du für ein Schicksal hinter dir hast, aber schau einmal genau hin, was sich dann zusammenfügte und Neues werden konnte. Vielleicht ist es dann sogar auch möglich, zu sagen: Es wurde mir nicht nur blind geschickt, sondern es wurde mir geschickt, weil daraus etwas Wunderbares werden kann.

      Ich habe gerade dieses Elternpaar vor Augen, das ein eingeschränktes, ein geistig behindertes Kind hat. Ja, was für ein Schicksalsschlag, sagen dann einige. Für diese Eltern war das immer ganz schrecklich, dass alle Leute sie anguckten und sagten: „Was für ein schreckliches Schicksal!“ Sie spürten, was für eine Entwertung ihrem Kind gegenüber dahintersteckt. Und dabei konnten sie mir sagen: „Durch unser Kind erst sind wir das geworden, was wir sind, und wir würden es nie mehr missen wollen!“ Ich verneige mich vor Menschen, die eine solche Haltung an den Tag legen, und versuche, auf meine Weise so auch meinem Schicksal, dem, was alles noch kommen wird, zu begegnen als eine Herausforderung, die mich zum guten, zum liebevolleren, zum vollkommeneren Menschen machen will.

      Es ist uns alles geschickt, und wir haben uns nichts selber genommen.

      Was wir uns selber genommen haben, konnten wir uns nehmen, weil uns vorher etwas geschickt worden ist.

      Was kann ich als Einzelner tun, damit sich die Welt zum Besseren entwickelt?

      „Sei du selbst die Veränderung, die du von der Welt erwartest“, so hat Mahatma Gandhi einmal gesagt, und das bleibt ein grundlegender Satz: dass ich eingeladen bin, in meinem Bereich und in dem, wofür ich Verantwortung trage, meine Entscheidungen zu treffen. Ich bin ja kein Staatspräsident und auch kein Politiker, dann kann man sich schnell die Frage stellen: „Ja, was nützt es denn? Wieso soll ich jetzt Plastik trennen und Biomüll trennen, wenn das sowieso alles wieder in eine Tonne kommt?“ So höre ich dann. Oder: „Warum soll ich jetzt eigentlich gerecht sein, wenn alle ungerecht sind? Warum soll ich jetzt etwas aushalten, wenn alle anderen es nicht aushalten?“ Diese Frage beschäftigt jeden Menschen, der einigermaßen ethisch verantwortlich handeln will. Wir brauchen die anderen, die uns ermutigen, besser zu leben.

      Aber was ist eigentlich dieses bessere Leben? Was ist dieses gute Leben? Zusammengefasst besteht es darin, dass ich versuche und mich entscheide, nicht mehr auf dem Standpunkt der Selbstsucht zu stehen. Das ist eine Entscheidung. Das hat mit Gefühlen gar nix zu tun, denn wenn man diese Entscheidung gefällt hat, dann wird man auf jeden Fall plötzlich anfangen, neu nachzudenken: Ist das, was ich gerade tue, eigentlich wirklich dienlich – dem Nächsten, der Schöpfung, meiner Zukunft, den Kindern? Und ich werde mich immer weniger fragen: Was habe ich davon?

      Viele Menschen sagen ja: Die ganze Welt ist voller Egoisten, warum soll ich da kein Egoist sein? Und doch ist es ein lohnenswertes Unterfangen, dass ich mich auf den Standpunkt stelle, nicht selbstsüchtig sein zu wollen, dass ich diesen Standpunkt der Selbstsucht verlassen will, weil ich nur so dazu beitragen kann, dass das Netzwerk des Dialoges wächst und nicht ständig zerschnitten wird von dieser schrecklichen Selbstsucht, die Menschen einholen kann.

      Wenn ich selber anfange, wie ein Heiliger zu leben in einer unheiligen Welt, beinhaltet das ja auch eine gewisse Arroganz, weil ich damit sage: „Ich bin der Heilige, die anderen sind unheilig.“ Dann wäre doch vielleicht der erste Schritt, um aus dieser Arroganz rauszukommen, dass ich mich mit anderen verbünde. Denn auch wenn du selber denkst, du seist der Einzige,