»Klaus! Du gehst zu Deiner Geliebten.«
»Tue dasselbe, Wolf – und lebe wohl!«
Die Augen Mangolfs zitterten, ihm war es nicht wohl bei dem Triumph, den er fühlte. »Du willst also durchgehen, Klaus. Du willst sie, was weiß ich, heiraten.«
»Begreife es oder begreife es nicht!«
»Dies ist somit der Fall, wo auch Du Deine Vernunft opferst, Klaus.«
»Mit Freuden!«
»Einer Frau? Einem trügerischen Wesen, das uns schwächt?« fragte Mangolf mit tiefer Wollust. Nie hatte er die Schwester des Freundes geliebt wie in dieser Minute. Der Haß zwischen ihm und dem Freund stand demnach in einem abgründigen Zusammenhang mit seiner Liebe zu der Schwester. Fragwürdiges Erleben, wie schmerzlich befriedigte es Mangolf!
Terra schlang die Finger ineinander, er sagte halblaut, stark und eintönig: »Ich will für sie leben und sterben, arbeiten und wenn nötig, stehlen. Für sie könnte auch ich zum Streber und Lügner werden, aber dann würde sie mich nicht lieben. Und ihre Liebe wird immer für mich das einzige Zeichen sein, daß ich gesiegt habe und nicht gestrandet bin.«
Mangolf hörte dies Fieber, dies Schicksal. Er selbst, erst heute, hatte solche Worte zur Betörung einer Frau gebraucht. Dieser brauchte sie zu seiner eigenen. Mangolf sagte ernst:
»Ich könnte Dich verachten. Aber ich will Dich bewundern.«
»Denn Du bist mein Freund«, sagte Terra; und sie hielten die Hände ineinander, bevor er ging.
Er ging nach Haus; alle schienen schon zu schlafen; nahm das Notwendigste mit und stieg hinunter in den Garten. Er sah sich nicht mehr um, das Vaterhaus sollte vergessen sein. Durch die Pforte entkam er auf die Wiese, dann an das Flußufer, bestieg das Boot und fuhr zu. Er rechnete auf zwei Stunden Ruderns im sternenlosen Dunkel, barhäuptig und den Wind vom Meer auf der Stirn. Statt dessen wäre er, nahe der Flußmündung, beinahe in einen Zug von Lastkähnen hineingefahren. Die Stimme, die ihn anrief, klang bekannt. Dann ward eine Laterne erhoben. »Schlüter?«
»Der junge Herr! Soll ich vielleicht doch noch umkehren?«
»Wohin fahren Sie denn?«
»Und Sie?« fragte der Lagerverwalter mißtrauisch.
»Ich komme zu Ihnen hinauf.« – Als er oben war: »Mein Vater schickt Sie fort? Wegen des Konsuls Ermelin? Nur heraus damit!« Er sah die Kähne entlang: »Getreide?«
»Wegen des Getreides fahre ich,« gestand der Verwalter. »Auch wegen des Herrn Konsuls, damit er in den Reichstag gewählt wird. Aber bei der Gelegenheit schaffen wir gleich das Getreide fort, es ist zu billig.«
»Zu teuer, meinen Sie?«
»Der junge Herr kennt das Geschäft noch nicht. Das Getreide ist noch vor dem neuen hohen Schutzzoll hereingekommen, und viel billiger als das hiesige, es verdirbt den Preis. Es muß aus dem Land, ich fahre es hinüber.«
Der Sohn schwieg hierauf lange im Dunkeln. Als er dies ganz erfaßt hatte: »Sie helfen das Brot zu verteuern, Sie, ein Sozialdemokrat?«
»Grade darum. Ihr Vater kann zu so etwas nur Einen brauchen, der noch mehr auf dem Kerbholz hat. Man will doch wieder zurück dürfen. Ich rede nicht. Sie können beruhigt sein, junger Herr.«
»Ich bin es. Aber Sie müssen allein hinausfahren. Ich gehe in mein Boot zurück und lege an.«
Von unten fragte Terra noch: »Was machen Sie, wenn die Zollwache Sie anhält?«
Der Beauftragte seines Vaters rief herab: »Dann kehre ich um und versenke alles.«
Darauf griff der Sohn noch schneller aus. Er fuhr auf den Meeresstrand auf, und durch das wehende Gras ging er den wohlbekannten Weg in das Dorf, nach dem Wirtshaus, das ihn zu jeder Zeit des Lebens schon aufgenommen hatte, als lachendes Kind mit den freundlichen Eltern, als übermütigen Schüler unter vielen, nicht weniger graden Herzen, als Herangewachsenen mit Seinesgleichen, denen es nicht fehlen konnte. Mißverständnisse, dies Alles. Niemals war so das Leben gewesen. So war nur die Unwissenheit, die besonnte Oberfläche. Eines Tages erfuhr man eine Wahrheit, sie war ungeahnt und so furchtbar, daß Dir für immer Spiel und Lachen verging. Andere Wahrheiten gliedern sich an, die Kette wird schwerer und schwerer. Du trägst sie durch das freieste Leben als Sträfling.
In dem schlechten Zimmer unter der niederen Decke stand der Sohn und durchdachte die Miene seines Vaters, seine Miene in großen Augenblicken, seinen Ausdruck, wenn er mit sich allein war, sein Gesicht bei Nichtigkeiten, die, wer weiß warum, ewig unvergeßlich sind. Die Decke war geschwärzt von der rauchenden Lampe. Jetzt prasselte Regen an das Fenster. Das Meer dort hinten hub Schläge zu rollen an. Das Haus in Wetter und Weite bebte wie ein Schiff. Der Sohn suchte, atemlos und verzerrten Gesichtes, nach dem Gesicht eines schlechten Menschen, der sollte sein Vater sein. Er fand es nicht. Dafür vernahm er in seinem Herzen jenen Tonfall von heute Mittag, der wohlwollend, kundig und sogar schüchtern klang. Das war der Freund des Verbrechers Ermelin? Dann wissen wir um unsere eigenen Taten nicht, und eben dies ist das Hoffnungslose.
Was weiß wohl die Mutter, vornehm und kindlich sicher. Aber jener junge Leutnant, den der Sohn, noch halbwüchsig, einst durch alle Räume jagte, bis er ihn im Musikzimmer der Mutter aus einem Vorhang zog? »Ach! ich glaubte, Dein Vater sei es,« sagte der Leutnant und lachte erleichtert.
Das Haus erbebte, den Sohn kam ein Schauder an. Er selbst hatte mit heiterem Mund seine Eltern bestohlen, um zu Weibern zu gehen oder auch um ein Vergnügen, von dem man hätte sprechen können. Er hatte Freunde verleugnet. Feige Handlungen und unreine Beweggründe waren sein menschlicher Gewinn, noch bevor er einundzwanzig Jahre alt ward.
Auf einem Strohstuhl über sich selbst gebeugt, ließ er die Gesichte heraufsteigen. Unheil und kein Ende, auch die Schwester erschien: in verdächtiger Gasse am Arm seines eigenen Freundes, heimlich fortgetrieben unter fallendem Regen. Das Lachen der Frau von drüben! Er weigerte sich nicht länger, es zu verstehen ... Keine der kindlich verehrten Gestalten stand noch fest – und keiner der alten Glaubenssätze! Mit eben dem Freunde, der ihn jetzt verriet, hatte er an stolzen Tagen und in erhitzten Nächten bezweifelt, was irgend Gesetz war. Entfesselter Geist, erhaben über Sitte, Bekenntnis, Menschenfurcht, hingeflogen, wo nicht mehr Welt und auch nicht Gott war, – um jählings niederzustürzen vor die Füße einer Frau.
Er fuhr auf, ihm brannte das Gesicht. Die Frau, die er liebte, um derenwillen er floh. Alles abbrach. Alles wagte! Kommt sie schon? Die verabredete Stunde! Aber daß sie nur jetzt mich nicht ertappt! Jetzt, da ich die Beute meiner Zweifel bin. Erhabenheit des unbeugsamen Geistes, Empörung noch unerbittlicher Moral – sollten sie nichts weiter gewesen sein, als Fallstricke der Sinne? Flucht! Aufruhr! – aber wann, in welchem Zeitpunkt? Als mein Vater mir den abenteuerlichen Verkehr verbot ... So ist mein Aufruhr Vermessenheit und Lüge. Im Grunde bin ich wie Jedermann. Ich würde zu allem geschwiegen, alles leicht genommen haben, ließ man mir nur die Begehrte. Sie soll nicht kommen, ich schäme mich.
Wie aber? Es wird Tag? Er riß das Fenster auf. Rauhe Stille; erstes Grauen ohne Hoffnung auf Sonne. Wolkenbänke tief auf glanzlosem Meer. Atmen – wir atmen doch. Und hab' ich mich belogen, jetzt weiß ich die Wahrheit, auch diese letzte, daß ich ein schlechter Kerl bin. Ich fliehe mit einer schlechten Frau, so ist es, so bleibt es, ich will es nicht anders. Daß sie noch nicht kam, das hat sie gut gemacht. Jetzt mag sie kommen!
Er ging zu der Haltestelle der Bahn. Sie saß dann also in dem Frühzug, er sollte gleich einsteigen zu ihr, und fort, aus der Nacht des Erkennens und der Abschiede geradenwegs hinein in das Leben, wie es ist. Nur kein Nichtsehen mehr, keine betrügerische Wohlanständigkeit! Mit der Abenteurerin verbündet, ein großer Mann werden, ein Lump oder ein Tropf – »nur wissen um mich! Die einfachste Menschenwürde verlangt die Befreiung meines Gewissens. Man soll mir in das Gesicht schlagen, nur ich selbst will es nicht tun müssen.«
Der Zug, – da bin ich! Aufgerissen die Türen, sie saß hinter keiner. Er trat zurück, betäubt, ganz ratlos.