Als ich mir in Santiago das Pilgerzertifikat ausstellen ließ, musste ich in einer Liste meinen Namen und meine Motivation eintragen. Hatte ich mich aus religiösen, sportlichen oder anderen Gründen auf den Weg gemacht? Ich war an diesem Tag der Erste, der „religiös“ ankreuzte. Für sportliche Aktivitäten muss ich nicht nach Spanien reisen. Ich wollte Gott begegnen. Und begegnete mir selbst: Die Erfahrung von Erschöpfung und Kraftlosigkeit zeigte mir meine engen Grenzen auf; an einem Tag konnte ich kaum sprechen, nur still den Rosenkranz beten. Aber es gab eben auch den Drang durchzuhalten, nicht aufzugeben und schließlich die Tränen des Glücks, das Ziel erreicht zu haben, in der Kathedrale die Messe zu feiern, die Reliquien des heiligen Jakobus zu verehren und mit Körper, Seele und Geist zu spüren: „Ich hab’s geschafft!“
Ich bin auf mich selbst gestoßen bei dieser Tour, und das war eine sehr religiöse Erfahrung. Mir war auch vorher bewusst, Gott ist in Santiago nicht näher als an meinem Wohnort zu Hause. Aber ich bin pilgernd ein anderer. Aus dem Kopf ist diese Erkenntnis in den Bauch gerutscht: Gott ist in mir. Ich bin in Gott. – Keine Frucht des Denkens, sondern des Laufens.
Die Wanderung ist von alters her ein Bild für den Glauben. Abraham (damals noch Abram genannt) wird von Gott zur Auswanderung aus seiner Heimat aufgerufen, nicht einmal wissend, wohin die Reise geht: „Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (1 Mose / Genesis 12,1). Abraham, schon 75 Jahre alt, hört, was Gott zu ihm spricht. Er hört, er horcht, und weil er und Gott zusammengehören, gehorcht er dem Befehl: „Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte“ (1 Mose / Genesis 12,4). Er geht zuversichtlich los und wird dadurch eine Symbolfigur des Gottvertrauens.
Das Gottvertrauen des Volkes Israel wurde später ziemlich auf die Probe gestellt. Denn nach ihrem erfolgreichen Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens zog sich der Weg der Israeliten in die Freiheit in die Länge. 40 Jahre dauerte die Wanderung ins Gelobte Land. Unterwegs durch die Wüste gab es zu wenig Wasser, zu wenig Essen, dafür zu viel Konflikte, zu viel Enttäuschung. Das anfängliche Vertrauen ging verloren. Und wer blieb überhaupt so lange am Leben und kam an?
Die Zahl 40 ist im biblischen Erzählen ein Sinnbild für den Übergang. Wenn ich mit meinen nun 57 Lebensjahren 40 Jahre zurückdenke, so sehe ich Kontinuitäten und Unterschiede zu meinem damaligen Glauben als Jugendlicher. Ich bin immer noch unterwegs, aber als ein anderer, der sich doch in vielem gleichgeblieben ist. Schleppe ich als Glaubenswanderer nicht nach wie vor zu viel Glaubensgepäck mit mir herum? Wäre es nicht sinnvoll, mich von manchem nun endlich zu trennen? Damit der Weg leichter wird. Damit meine Kräfte nicht von einem „Für-wahr-halten-Glauben“ absorbiert werden?
Wer wie ich von klein auf christlich sozialisiert wurde, hat viele Glaubensinhalte verinnerlicht. Wir können Gebete und Lieder auswendig, orientieren uns am Kirchenjahr, sind mit biblischen Texten vertraut, wissen um theologische Wahrheiten und verfügen über Grundkenntnisse der Kirchengeschichte. Das ist ein großer Schatz.
Aber darin liegt auch die Gefahr der Erstarrung. Wir bleiben in den (Er)Kenntnissen unserer Kindheit und Jugend stecken. Machen es immer so weiter, wie wir es gelernt haben. Die Macht der Gewohnheit ist gewaltig. Sollten wir dennoch spüren, das passt ja gar nicht mehr zu mir und meiner Zeit, dann kann es sein, dass wir nicht nur Einzelheiten verändern, sondern den ganzen alten Zopf auf einmal abtrennen. Es gibt heute zahlreiche Menschen, die im fortgeschrittenen Alter ihre Kirchenmitgliedschaft aufkündigen. Das mag spezielle Gründe haben, doch meistens geht dem auch eine lange Phase der Entfremdung vom Glauben voraus. Da ist der Glaube nicht mitgewachsen, konnte nicht erwachsen werden.
Mein Glaube ist durch meine Herkunft geprägt, durch die Zeit, in der ich groß wurde, wie seinerzeit eben Familie, Kirche, Schule und Gesellschaft strukturiert waren und organisiert wurden. Ich hatte das Glück (oder, in der Sprache des Glaubens, mir wurde die selige Fügung zuteil), eine Mutter zu haben, die zwar traditionell im Ausdruck, aber liberal im Herzen war. Sie ermutigte mich, meinen eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Auch in Sachen Religion. Mit 16 mochte ich den Satz im Glaubensbekenntnis, „geboren von der Jungfrau Maria“, nicht mitsprechen, er schien mir im wahrsten Sinne unglaublich zu sein. (Dank eines lyrischen Verständnisses des Credos habe ich heute keine Probleme mehr damit.) Und wenn früher beim Beichten der Herr Pastor fragte, ob es da noch Dinge gebe, die ich vor Scham nicht wagen würde auszusprechen (offensichtlich spielte er auf sexuelle Themen an, die ich in der Tat nie erwähnte, obwohl sie mich bewegten, weil damals ja alles verboten war), dann schüttelte ich sachte den Kopf. Diese innere Freiheit besaß ich bereits, manches ging nur Gott und mich direkt an.
Der Glaube schenkte mir Kraft und Selbstvertrauen. Doch ich benutzte Gott auch für meine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Zugehörigkeit. Das musste früher oder später zu Spannungen führen. Mit der Kirche, die mich ihre Sicht auf Gott gelehrt hatte. Aber auch mit Gott selbst, weil ich zunächst meine kindliche Haltung als rundum versorgter Nesthocker nicht aufgeben wollte. Im Prozess des Erwachsenwerdens zeigte sich: Der „liebe“ Gott hat ausgedient. Der überkommene Glaube war überfordert, mir angemessene Antworten auf meine Fragen zu geben. Oder er gab Antworten auf Fragen, die ich nicht stellte.
Es scheint nahezuliegen, dass ich deswegen den Weg der vergleichenden Religionswissenschaft und Theologie einschlug. Ich wollte mehr wissen. Wissen eröffnet Horizonte. Es brauchte eine Zeit, bis ich wusste: Wissen allein bringt mich nicht zu Gott. Ich suchte Gott. Doch wo soll man suchen? In Büchern? Im Gottesdienst? Im Gespräch mit Glaubenden? In der Stille? In der Natur? In der Musik und der Kunst? In der leidenden Kreatur? Suchen kann man dort, vielleicht sogar finden. Heute ist mir klar: Wer sucht, verliert. Es geht weniger ums Finden als vielmehr ums Gefunden-Werden. Nicht ich habe Gott gefunden, sondern Gott mich. Auf meiner Glaubenswanderung bin ich oft in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Oder ganz vom Weg abgekommen. Ich dehnte Gelegenheiten zur Rast über Gebühr aus und trat auf der Stelle. Aus Versehen. Weil ich verpeilt bin. Weil ich vor Gott fortlief wie Jona. Ich kam nicht voran, weil mir das Ziel so unendlich weit entfernt erschien. Weil es mir am Vertrauen mangelte, das Abram mutig losziehen ließ. Und ich kam nicht recht vom Fleck, weil mein Glaubensrucksack zu schwer wog. Zu vieles, was wichtig und richtig und unaufgebbar sein wollte. Das musste sich ändern.
Denn nach wie vor lodert in mir die Sehnsucht nach Gott. Inmitten meiner seltsamen Diesseitigkeit hungere ich nach Transzendenz. Ich wünsche, alles, was mich hier bindet, zu überwinden. Ich dürste nach dem Himmel – gerade weil ich manchmal gewahr werde, ich bewege mich bereits darin. Diese Empfindung habe ich in einem kleinen Text für ein Kinderlied des Liedermachers Robert Haas versucht in Worte zu fassen:
Wie der Fisch im Wasser schwimmt, leben wir in dir.
Wie die Wolke oben schwebt, hängen wir an dir.
Sehen können wir dich nicht, dennoch wissen wir:
Du bist überall, du bist hier.
Hätte ich mehr Mystik gewagt, hieße es am Schluss nicht nur „du bist hier“, sondern „du bist in mir“. Gott in mir – das klingt so anders als die religiösen Sätze, die ich als Kind und Jugendlicher zu Hause, in der Kirche oder in der Schule gehört habe. Es klingt auch anders als die Inhalte meines theologischen Studiums. Anders als die Predigten, die ich in den Gottesdiensten hörte und höre, wenn ich sie als Teilnehmer besuche. Anders als die Predigten, die ich selbst halte.
Als Pfarrer versuche ich die große Tradition des Christentums mit meiner persönlichen Gotteserfahrung und der konkreten Situation, in die ich hineinspreche, übereinzubringen; ich bemühe mich, das in verständliche Worte und Zeichen zu übersetzen, um so Glauben für andere fruchtbar zu machen oder, wie es in der evangelischen Kirche heißt, das „Evangelium zu kommunizieren“. Diese Herausforderung überfordert mich aus Prinzip. Karl Barth brachte das schon vor 100 Jahren auf den Punkt: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“
Viel radikaler hat das fast 600 Jahre zuvor der Dominikanerpater Johannes Tauler formuliert: „Denn Gott ist nichts von alledem, was du von ihm aussagen