Übrigens war das eigentlich gar nicht die Angst von der Toni. In ihr ist ein unbestimmtes, dumpfes Angstgefühl, sie kann es sich nicht recht erklären, eine würgende, scheußliche Angst, die sie nicht loslässt, in der Schule ist sie da und in der Besuchsstunde und nachts. Ja, nachts besonders. Da kann sie nicht einschlafen vor Angst. Aber jetzt verschwindet dieses Gefühl. Friedl schläft ruhig, gleichmäßig sind die Atemzüge, still liegt er, er schläft, er wird gesund, morgen ist er fieberfrei und –
»Und übermorgen nehm ich ihn mir wieder nach Hause«, sagt die Toni zum Egger Josef, und bereut gleich, dass sie es gesagt hat. Es ist vielleicht taktlos, wer weiß, wann der Egger Josef nach Hause kann, es geht ihm zwar schon besser, aber man sagt ihm noch nicht, wann er aufstehen darf.
Die Glocke im großen Saal nebenan läutet, die Besuchsstunde ist zu Ende. Gleich werden die Höfe schwarz von Menschen sein, von »Angehörigen«, die geduldig zum Ausgang trotten. Ihr Stimmengewirr dringt herauf ins Zimmer, jetzt unterhalten sie sich über ihre Kranken, sie tauschen Vermutungen aus, mein Gott, Gewisses weiß man doch nie, die Ärzte geben ungern Auskunft, die Leute sprechen und suchen den Ausgang und sind eine große Familie: die Angehörigen.
»Die Besuchszeit ist um«, ruft die Schwester, sie hat die Tür aufgerissen, und ihre Mahnung gilt Toni. Folgsam steht Toni auf, man darf hier niemanden böse machen, sie sind sonst nicht gut zum Friedl.
»Gute Besserung«, sagt sie zum Egger Josef, und in ihrer Stimme ist leiser Jubel, weil Friedl bald fieberfrei sein wird. Dann beugt sie sich über den Vater und küsst seine Stirn. Friedls Stirn ist kühl und feucht. Übermorgen wird sie mit ihm nach Hause fahren können.
»Friedl, du hast dich rasieren lassen!«, schreit Toni begeistert. Das ist am nächsten Tag, und heute ist sie mit frohem Herzen zur Besuchsstunde gekommen. Die Toni ist zum ersten Mal seit Tagen gut aufgelegt, heut ist Friedl bestimmt ganz fieberfrei, er wird bald gesund sein, er hatte gestern schon beinahe kein Fieber mehr, jetzt kommt er bald heraus aus der fremden Welt, er kommt nach Hause, Toni ist gut aufgelegt, sie reißt die Tür auf und schreit: »Nein, diese Überraschung – Friedl ist frisch rasiert!«
Der fremde, kleine Bart ist fort, jetzt sieht man erst, wie weiß und schmal Friedls Gesicht geworden, aber es ist wieder Friedls Gesicht, nicht das eines fremden, kranken Herrn mit lichtem Bart.
»Ich hab heut früh einen Spiegel verlangt – und dann natürlich darauf bestanden, dass ich rasiert werde«, sagt Friedl. Er spricht sehr langsam und so leise, dass man genau aufpassen muss, um ihn zu verstehen. Er ist noch sehr schwach, denkt Toni.
»Jetzt bist du schon fast gesund und musst wieder auf dich schauen, Friedl«, nickt sie eifrig.
Der Egger Josef im Bett gegenüber wälzt sich stöhnend herum, jede Bewegung schmerzt ihn furchtbar, aber er will alles genau sehen und hören. Welche Schmerzen man aus Neugierde erträgt, denkt Toni.
»Ich hab mich für dich rasieren lassen, Anton«, sagt Friedl.
»Für mich?« Toni lacht. »Du meinst, ich soll dem Fräulein Clarisse sagen, dass sie dich hier besuchen darf. Bis jetzt hab ich nämlich allen Leuten, die bei uns angerufen haben, verboten, herzukommen. Ich glaub, du warst sehr krank, Friedl.«
»Nein, ich hab mich nur für dich rasieren lassen. Obwohl ich sehr müd war. Ich bin überhaupt so schrecklich müd …«
Und nach einer kleinen Pause: »Anton, wenn du von hier fortgehst, sollst du mich richtig in Erinnerung behalten. So, wie ich immer war, nicht ungepflegt mit einem Stachelkinn …«
Friedl lächelt. Sein Lächeln ist anders geworden. Fern, als ob er nicht ganz bei der Sache wäre.
»Nicht wahr, heut hast du kein Fieber mehr?«, redet Toni weiter. »Der Fekete schickt Empfehlungen. Denk dir, jetzt kocht er für sich jeden Tag Knoblauchsuppe. Er sagt, dass Knoblauch für Männer mit vierzig Jahren sehr gesund ist, man verkalkt nicht so schnell. Glaubst du, dass wir beide auch Knoblauchsuppe essen sollen, damit –«
»Der Herr Rittmeister ist noch etwas schwach, man soll nicht so viel sprechen«, lässt sich der Egger Josef vernehmen. Toni unterbricht ganz erschrocken.
»Lassen Sie nur«, sagt Friedl mit seiner leisen, fernen Stimme, »ich wollte dir so viel sagen, Anton, jetzt hab ich es vergessen, es wird mir wieder einfallen – nur wegen der Erinnerung hab ich mich rasieren lassen, für dich, Anton –«
»Du sollst sicherlich nicht viel sprechen, Friedl«, ermahnt Toni, »es ist vielleicht besser, wenn ich schon fortgehe.«
»Bleib nur, Anton, bleib hier sitzen – ich bin sehr müd, ich werde wieder einschlafen, aber du bleibst hier sitzen, ja, Anton?«
Bleibt die Toni also sitzen und sieht dem Friedl zu, wie er schläft. Man hört ihn kaum atmen, es ist beinahe unheimlich, wie still er daliegt.
»Fräulein Huber«, flüstert der Egger Josef, »ich möchte Ihnen etwas sagen.«
Toni steht leise auf und setzt sich gewohnheitsmäßig auf die Bettkante. Er sollte nicht so laut flüstern, denkt sie, sonst weckt er noch den Friedl auf. »Ja, was gibt’s denn, Herr Egger?«
»Ich komm weg von hier, Fräulein Huber«, flüstert der Egger Josef.
Verständnislos blickt ihn Toni an. »Weg? Wieso weg?«
»Wenn die Besuchsstunde aus ist, werde ich in ein anderes Zimmer gebracht. Die Schwester Mathilde hat mir’s gesagt«, zischelt er und macht ein Verschwörergesicht. Denn die Schwester Mathilde hat ihm sicherlich ein Amtsgeheimnis verraten.
»Ja, aber warum denn? Ich hab mich immer für Friedl gefreut, weil er einen so netten Zimmerkameraden hat, und jetzt –«
Während Toni spricht, denkt sie aufgeregt nach. Sie bringen den Egger fort, wahrscheinlich hat sich sein Zustand stark verschlechtert, sicherlich bringen sie ihn fort, damit der Friedl nicht sieht, dass der Egger, mein Gott, der arme Herr Egger, man merkt ihm eigentlich gar nichts an, sein rosarotes, rundes Gesicht sieht doch nicht nach Sterben aus. Trotzdem: Neulich erst hat sie den Doktor Honig gefragt, was mit den Sterbenden geschieht. Es muss doch für andere Kranke entsetzlich sein, wenn ein Mensch im Nachbarbett mit dem Tod ringt. Und der Doktor Honig hat ihr erklärt, dass man sich hier sehr bemüht, Sterbende abzusondern. Sie werden in ein anderes Zimmer gebracht, zum Beispiel in ein Zweibettzimmer. Und wenn man weiß, es dauert nicht mehr lang, dann lässt man sie in dem Zimmer allein. Und jetzt, der arme Egger Josef mit der Gelenkentzündung, ob er ahnt, warum sie ihn wegbringen?
»Wissen Sie schon, wohin man Sie bringt?« Sie bemüht sich sehr, kein allzu teilnahmsvolles Gesicht zu zeigen.
»Ich glaube, in ein Zimmer, in dem noch zwei andere liegen. Eine Rippenfellentzündung soll dort sein und eine rätselhafte Lähmungserscheinung. Aber ich weiß nichts Genaues«, flüstert der Egger Josef weiter. Natürlich weiß er nichts Genaues, Gott sei Dank, denkt die Toni, sie werden ihn im neuen Zimmer allein lassen.
»Und wer kommt hierher, zum Friedl?«, will sie wissen.
»Ja das … das weiß ich nicht, ich hab vergessen, die Schwester Mathilde zu fragen«, stottert der Egger Josef. Aber jetzt flüstert er sehr eilig weiter: »Ich wollte mich nämlich von Ihnen verabschieden, Fräulein Huber, deshalb hab ich Ihnen alles gesagt.«
Die Toni ist sehr gerührt und sehr verlegen.
»Der Friedl wird sicherlich nicht mehr lang hier sein, aber ich komme Sie trotzdem bald einmal besuchen«, verspricht sie.
Jetzt wird der Egger Josef sehr gerührt und sehr verlegen, die Toni weiß gar nicht warum.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass – falls Sie nämlich einmal was brauchen, ich meine, jetzt gehen Sie ja noch in die Schule, aber nach der Schule, wenn Sie nicht wissen, was Sie anfangen sollen – es ist heut so schwer mit den Stellungen, Sie werden auch einen Posten suchen, nicht wahr? Also, da wollte ich Ihnen sagen, dass Sie mich immer in der Radiogesellschaft erreichen, in der technischen Abteilung, ich meine, wenn Sie keine Stellung finden