Lasset sich aber die Zeiten ändern: es fange das ganz andre Ding zu wirken an, was wir Ehrbarkeit, Anstand nennen, ohne doch eben Tugend darunter zu verstehen: Dinge, die man auch ohne Neckerei und Zoten sagen wollte, wird man oft nicht nennen wollen, nicht nennen dörfen, und endlich nicht zu nennen wissen. Durch einen allgemeinen Reichsschluß auf dem Reichstage der Ehrbarkeit wurden solche Benennungen für unzüchtig erklärt, aus der Sprache geworfen; nicht aber darum auch die Sachen selbst für unzüchtig erklärt, nicht darum die Begierde weggeschaffet, solche Namenlose Sachen um so lieber nennen, und da man sie nicht nennen darf, artig andeuten zu wollen. Das ist der Ursprung galanter Zweideutigkeiten! Zween, drei Ausdrücke wurden aus der Sprache des Anstandes weggebannet, und dem Pöbel überlassen; zwanzig Umschreibungen aber, fünfzig verblümte Redarten, und hundert Zweideutigkeiten, wobei nur der seine Kopf etwas merkt, dagegen eingenommen, und das hieß gesittete, übliche, züchtige Sprache des Jahrhunderts. Züchtig! meinetwegen! so züchtig, daß Crebillonsche Romane alle mögliche Unzüchtigkeiten, mit aller feinen Zucht, vortragen, mit allen lüsternen Täuschungen, durch die, wie durch einen leichten Flor die üppigen Reize blos durchschimmern, uns alle Scenen und Akte der Unehrbarkeit sehr ehrbar mahlen können. Ueblich? allerdings so üblich, daß wer die neueste Verdrehung dieses oder des Ausdrucks, das Unglück hat, nicht zu verstehen, nach allen Gesetzen des Ueblichen, nach der neuesten Bedeutung des artigen Wörterbuchs, in Gefahr geräth, der ernsthafteste Zotenreißer zu werden. Gesittet? so gesittet, daß man mit dem Sittsamen der artigen Welt alle Sitten der Tugend beschämen, alle Musen und Gratien der wahren Sittsamkeit erröthend machen kann! Das sind die artigen Früchte des löblichen κακοφατον! Tantum fuit in Romanis verecundiae studium castis auribus pepercerunt!
Quintilian selbst redet in der angezogenen Stelle, gegen die Sucht, κακοφατα zu finden, offenbar. Er nennet sie ein Verdrehen, ein Verderben der Rede: er setzt, wenn die üppigen Römer seiner Zeit, das was ein alter Schriftsteller sancte et religiose gesagt hatte, auf einen unehrbaren Sinn zogen, sein spottendes si diis placet! dazu: er wirst die Schuld auf die Lesenden solcher Art, daß sie die Rede verdürben, mißbrauchten; daß bei solcher Schaamlosen Schaamhaftigkeit endlich kein ehrbares Wort mehr ehrbar seyn werde: er hält es für ein verderbtes Zeitalter, dein er blos aus Noth nachgeben müsse, »quatenus verba honesta moribus perdidimus et evincentibus vitiis cedendum est.« Er hat also wahrlich nicht daran gedacht, daß hinter sein scheltendes: quod si recipias, nil loqui tutum est! ein ehrbarer Klotz des achtzehnten Jahrhunderts die frommen Seufzer: tantum fuit in Romanis verecundiae studium! tam diligenter castis auribus pepercerunt! im Ernste nachseufzen, und solche Verecundia mit allem Ernste zum ersten Stücke der Virgilianischen Keuschheit machen werde. Keusche Römerohren! artiges Jungfernlob auf Virgil! Das wenigste, das Herr Klotz gestehen wird, ist, daß er Quintilian nicht verstanden, und das wahre Wesen der Schaamhaftigkeit wohl nicht überdacht habe.
1 Kants Betrachtungen über das Schöne und Erhabene. p. 61–65.
2 p. 254.
3 Instit. orator. VIII. 3.
4 p. 264.
5 Daß ich nicht der Erste bin, der das in Homer findet, mag Maximus Tyrius zeigen, der in seiner zweiten Rede von der Sokratischen Liebe die Liebesepisoden in Homer genau und Charaktermäßig claßificirt.
III.
Von Worten fange ich die Ehrbarkeit nicht an; sondern von Gedanken; und von welchen? Ich sehe, daß Hr. Kl. mich in zu tiefe Gelehrsamkeit, in zu bunte Philosophie führe; ich will lieber auf dem ebnen Stege der Natur bleiben. Nur gebe die Göttin, deren Wesen ich untersuche, daß, indem ichs untersuche, ich nicht selbst ihren Altar entweihe!
Zuerst: womit ist die Schaamhaftigkeit natürlicher gesellet, als mit den Neigungen der Liebe? Der Liebe ward sie von der Natur, als Schwester, als Gesellin, als Aufseherin, mitgegeben, an deren Hand sie auch die Würkungen, die Macht, die Reize derselben so sehr befördert. Nichts ziert die Liebesgöttin so sehr, als die Farbe der Unschuld, sanfte Schaamröthe, die in sich geschmiegete Mine der bescheidenen Einfalt. Wenn also unter allen Tugenden Eine das Anrecht hätte, in der Allegorie als ein Frauenzimmer vorgestellt zu werden: so ist die Schaamhaftigkeit dazu die Erste. Sie ist der Reiz der Liebe, und die Tugend des Geschlechts, das die Natur zum liebenswürdigen Theile der Menschheit bestimmte: sie also eine weibliche Tugend. Ein Weib ohne Zucht, sagt das Arabische Sprüchwort, ist eine Speise ohne Salz: und noch füglicher könnte dies Sprüchwort von der Liebe selbst gelten. Eine Liebe ohne Scham ist nicht Liebe mehr: sie ist Ekel. Nichts ekelhafters in der Welt, als eine förmliche Exposition der Liebe.
Wenn dies in der Natur, bei einer so nothwendigen, und für das Menschliche Geschlecht unentbehrlichen Neigung, Statt findet: wie weit mehr in Worten! in Worten an die Welt und Nachwelt! in Worten, zum Vergnügen! Alle Empfindungen des Vergnügens zerfließen bei einem Schaamlosen Bilde; sie verwandeln sich in Ekel! Homer, in seiner Beschreibung der zweiten Brautnacht1 zwischen Jupiter und Juno, mag alle Annehmlichkeiten, die sich vor Augen legen lassen, zeigen: die hohe Gestalt, den Schmuck, die Pracht der Königin des Himmels: alle Gratien und Reize inm Gürtel der Venus: alle Empfindungen der Liebe, und des Verlangens im Herzen Jupiters – aber nun? decke sie die himmlische Wolke! Da liegt sie in den Armen des höchsten Gottes, und unter ihnen blühen Kräuter und Blumen aus dem Schooße der Erde hervor; das himmlische Paar selbst aber umschatte die goldne Wolke, daß selbst die allsehende Sonne sie nicht erblicke! – So dichtet Homer; und ich sehe keinen Weg, weiter zu dichten, als die artigen Zweideutigkeiten, von denen er nichts weiß – –
Zunächst äußert sich die Naturempfindung, von der ich rede, in Nennung der verborgenen Theile unsres Körpers, die unsre Sprache, zum Theile, schon mit dem Namen der Tugend selbst bezeichnet. Ich sage: zunächst; aber absteigend zunächst; denn es ist unstreitig, daß diese Gattung von Schaamhaftigkeit nicht schon allein von der Natur, sondern auch von der Politesse, Gesetze erhält. In einem Wörterbuche, in einer Naturlehre mag dieses und jenes Wort recht gelegentlich und schaamlos stehen; nur aber nicht so gelegentlich in offenbarer Rede, in Schriften, wo es nicht hin gehören muß, in Werken des Vergnügens, und der Gesellschaft. Seit dem Kleider die Hüllen der Schönheit und Häßlichkeit geworden: seit dem haben auch einige Namen, gleichsam verdeckt, selten werden müssen; und, mit der Zeit, sind sie gar unsichtbar geworden. Mit dem Unterschiede, daß, wo sie unsichtbar seyn konnten, weil sie nicht genannt werden dorften: da war ihr Verschwinden eine Folge einer Naturempfindung; wo sie aber genannt werden müssen, und doch nicht genannt werden dorften; da war ihre Unehrbarkeit eine gesellschaftliche Verabredung; ein Vertrag der höchsten Politesse.
Noch offenbarer sind andre Verabredungen, die immer heißen könnten, wie sie wollten; nur Naturempfindungen der Schaamhaftigkeit sollten sie eigentlich nicht heißen. Dies sind alle Beleidigungen des gesellschaftlichen Wohlstandes, wo man eine Art von Verweise befürchtet, oder sich selbst giebt. Ein Kind hält seine Kleider schmutzig, seine Strümpfe nachläßig, seine Haare unordentlich. »Schäme dich!« ist der allgemeine Zuruf der Mutter; und das Kind, insonderheit das Mädchen, lernt sich im Ernste schämen. Es lernt, sich schämen, und mußte es lernen: denn, als Naturempfindung, lag solche Schaam nicht in ihm. Sie lernte sie blos aus dem Worte: von da stieg sie ins Ohr, in die Seele, und zur Gesellschaft auch auf die Wangen: mit dem Worte ward endlich auch der Begriff, mit dem Begriffe die Empfindung selbst geläufig. An sich immer ein gesellschaftlich nothwendiger Begriff, eine gesellschaftlich vortrefliche Empfindung; nur nenne man sie immer lieber ein erworbnes Gefühl des geselligen