Yoga und soziale Verantwortung. Alexandra Eichenauer-Knoll. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexandra Eichenauer-Knoll
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783864103643
Скачать книгу
Kant-Expertin und betont: »Es ist nicht so, dass Kant nicht auch gern ein Idealist gewesen wäre. Er hatte nur erkannt, dass uns dafür jede Voraussetzung fehlt. Das einzig Eindeutige, das alle Menschen jederzeit in sich vorfinden und auf das wir uns deshalb auch einigen können, ist unser Sinn für Stimmigkeit und Widerspruch unserer Vorstellungen, also die Vernunft in einfachster Bedeutung als Bewusstsein, das einfach immer da ist, bevor wir es auf unterschiedliche Weise gebrauchen, also mit anderen Erkenntnisvermögen verknüpfen.«7

      Wie kann sich dieser Sinn für Stimmigkeit schärfen? Heute wissen wir, dass Gefühle Gedanken auslösen und steuern. Will die Vernunft alleine ganz praktisch entscheiden, so müssen zumindest vorher die Gefühle geklärt und beruhigt sein, damit wir zur selbstkritischen Reflexion fähig sind.

      Die Zeiten Kants waren aufregend. 1789 wurde in Paris die Bastille gestürmt, und die Parolen der Revolutionäre faszinierten und verschreckten gleichermaßen das restliche Europa mit drei neuen Werten: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

      Soziale Verantwortung wird zur Gesinnung

      Das darauf folgende 19. Jahrhundert war geprägt durch rasanten technischen Fortschritt und infolgedessen großer sozialer Veränderungen – auf die Revolution des Geistes und der Werte folgte eine industrielle Revolution mit gravierenden sozialen und auch politischen Auswirkungen. Das soziale Elend war in kurzer Zeit unfassbar groß geworden, auch Wien wurde zu einem unrühmlichen Beispiel. Extreme Wohnungsnot durch Zuzug und Landflucht führte zu Phänomenen wie den sogenannten Bettgeher:innen. Kinderarbeit, Ausbeutung und beinahe sklavenähnliche Zustände für die in den Ziegelbrennereien arbeitende Bevölkerung waren an der Tagesordnung. Gleichzeitig ließ sich das wohlhabende Wiener Bürgertum großzügige Palais erbauen und profilierte sich als Förderer der schönen Künste. In hochromantischen Liedern und Dichtungen verklärte man die ländliche Idylle, während die Menschen vom Land in Elendsquartieren ein paar Kilometer weiter weg darben mussten. Die Obrigkeit versagte in diesem Fall, weder Kirche noch Kaiser interessierten sich für die Verelendeten.

      Der österreichische Arzt Victor Adler erkannte dieses Unrecht. Obzwar aus bürgerlichem Hause, hatte er beruflich persönlichen Kontakt zu den Ärmsten der Armen. Diese Unrechtserfahrung bewirkte bei ihm den Entschluss, für Menschen, die gar nicht seiner Gesellschaftsschicht angehörten, Verantwortung zu übernehmen und ihnen eine politische Stimme zu geben. Er ermächtigte sich freiwillig und ohne Auftrag von oben, einfach weil er erkannte, dass er gebraucht wurde und sein Gewissen und seine Vernunft ihm dies geboten. Victor Adler schaffte es, zur Jahreswende 1888/89 im niederösterreichischen Hainfeld alle Gesinnungsgenossen trotz Versammlungsverbot und staatlicher Bespitzelung zusammenzubringen und zu einer Bewegung zu einen, die sich später Sozialdemokratische Partei Österreichs nennen sollte.

      Ich wohne in der Region. Gemeinsam mit der Historikerin Dr. Margarete Kowall habe ich das Stadtmuseum Hainfeld konzipiert und auch am sogenannten »Einigungsparteitagsraum« mitgearbeitet. Eine unserer Vorarbeiten bestand darin, die komplett erhaltenen Gesprächsprotokolle aus der Frakturschrift zu transkribieren, sie sprachlich behutsam zu modernisieren und auch zu digitalisieren. Wir arbeiteten in drei Teams, meist zu zweit. Die Reden dieser Delegierten, die keine Berufspolitiker waren und vom Leid von Ihresgleichen erzählten, waren zutiefst berührend. Ihr einendes Anliegen war es, endlich das Leid und die Ungerechtigkeit zu lindern. Ihre Sprache war klar und kraftvoll. Diese Männer (es waren damals leider nur Männer zugelassen, auch wenn Frauen sich angeboten hatten) übernahmen Verantwortung und bewiesen Rückgrat. Ihre Haltung wurzelte in der tiefsten Überzeugung, dass diese Art soziales Unrecht großes Leid provoziert und daher bekämpft werden muss. Eine Überzeugung, die zur Gesinnung wurde und in die Gründung einer Partei mündete. Interessanterweise ist das Wort Verantwortung kein einziges Mal im Text zu finden, dafür 26-mal das Wort Pflicht, sogar von heiliger Pflicht ist die Rede:8

       »Rissmann (Graz): (…) Aber eines ist unsere Pflicht: dass wir das Volk über seine Verhältnisse und seine Stellung aufklären, alles andere aber ruhig dem Volk überlassen. Wir sind keine Aufwiegler.«

       »Hybeš (Brünn): (…) Ich will also nur aufmerksam gemacht haben, dass eine solche Statistik unsere heiligste Pflicht ist, und wir haben in Brünn schon ein derartiges Material gegen viele Fabrikanten, die im heurigen Jahr noch nicht an einem einzigen Tag die Gewerbeordnung respektiert haben.«

      Männer wie Victor Adler und seine Genoss:innen kämpften in der ganzen industrialisierten Welt für mehr Gerechtigkeit. Der Kampf, geeint durch eine parteipolitische Vision, lohnte sich, trotz der schweren Rückschläge während der NS-Diktatur und auch schon davor.

      Die europäischen Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts gründen auf dieser Gesinnung. Inzwischen kommt es wieder zu einer schleichenden Erosion der hart erkämpften Rechte, und eine Solidarität unter den Arbeitnehmer:innen, wie sie damals möglich wurde, scheint heute aus den unterschiedlichsten Gründen wieder in das Reich der Utopien zu verschwinden.

      Die soziale Verantwortung wird ethisch

      Heute dürfen wir in Österreich soziale Errungenschaften genießen, wie sie in vielen Teilen der Welt nicht selbstverständlich sind. Trotzdem kann auch die beste moralische Gesinnung in die Irre führen, wenn sie sich von den ursprünglichen Zielen entfernt oder negative Auswirkungen ihrer Postulate vernachlässigt oder verleugnet. Darauf wies im Jahr 1919 der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber hin, und zwar in einem Vortrag zum Thema »Politik als Beruf«. Er machte damals klar, dass es einen Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik gibt. Diese Begriffe haben sich in die Lehrbücher von Student:innen der Politikwissenschaften und der Soziologie eingeschrieben:

       »Als gesinnungsethisch wird ein Handeln bezeichnet, das sich strikt an einem Wertgesichtspunkt (etwa Gleichheit) oder einem abstrakten Prinzip (z. B. Pazifismus) orientiert, ohne die Folgen zu bedenken.

       Verantwortungsethisch wird eine Handlungsweise genannt, bei der möglichst alle Folgen und Nebenfolgen für alle Betroffenen in die Kalkulation der besten Handlungsstrategie eingehen.«9

      Mit dem Hinweis auf die Folgen mischt sich nun die Sorge um die Zukunft vermehrt in die Diskussion über die Verantwortung. Als junge Frau erlebte ich diesen Unterschied erstmals eindrücklich bei den Diskussionen rund um die Besetzung der Stopfenreuther Au östlich von Wien durch Umweltaktivist:innen im Dezember 1984. Damit sollte der Bau des Donau-Kraftwerks bei Hainburg verhindert werden. Besonders die Gewerkschaftsvertreter:innen setzten sich mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung für die Räumung ein. Nach einer gewaltsamen Polizeiaktion demonstrierten 40.000 Menschen gegen den Kraftwerksbau. Schließlich kam es zum »Weihnachtsfrieden« von Hainburg, und das Projekt wurde gestoppt. Die soziale Forderung »Arbeitsplätze schaffen« traf hier, für mich erstmals deutlich, auf einen neuen moralischen Wert: die Natur zu erhalten und zu schützen. 1996 wurde das Gebiet zum Nationalpark »Donau-Auen« ernannt.

      Die ökologische Verantwortung vermischt sich mit der sozialen Verantwortung

      Einer, der einen großen Beitrag zu diesem Umdenken leistete, nämlich dass der Schutz der Umwelt als ein moralisches Anliegen anzusehen ist und wir dafür Verantwortung übernehmen müssen, war der in Deutschland geborene Religionsphilosoph Hans Jonas. Nach seiner Emigration über England und Palästina lehrte er von 1955 bis 1976 als Professor an der New School for Social Research in New York. 1979 veröffentlichte er das Buch »Das Prinzip Verantwortung«, das als sein Hauptwerk gilt (und ganz aktuell im Jahr 2020 neu aufgelegt wurde). Darin fordert er zu nichts Geringerem auf, als Ethik völlig neu zu denken. Denn traditionelle Ethik verstehe die Umwelt als eine unveränderliche Konstante, und das sei aufgrund der