Yoga und soziale Verantwortung. Alexandra Eichenauer-Knoll. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexandra Eichenauer-Knoll
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783864103643
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und einfach nicht zeitgemäß? Wozu halten wir uns mit sozialen Verhaltensregeln auf, wenn der Yoga doch ein Weg der Verinnerlichung ist, wo ich ganz alleine für Erfolg und Tempo maßgeblich bin?

      Die Antwort ist simpel: Weil wir die moralische Basis brauchen – inhaltlich und auch methodisch.

      Die Niyamas sind heilsame Verhaltensempfehlungen für die eigene Selbstentfaltung im Hier und Jetzt. Es sind Verhaltensempfehlungen, die uns innerlich bestärken, unsere Selbsterforschung unterstützen und uns so im sozialen Engagement auch vor dem Ausbrennen schützen können. Denn eine Vision kann uns leiten und zum Aufbruch motivieren, ist aber kein Schutz vor Überforderung. Die Moral (Yama) bestärkt uns, lässt uns achtsamer in Beziehungen agieren, ist aber auch keine ganzheitliche Methode, um uns selbst zu erforschen und heilsame Ressourcen aufzubauen. Die fünf Niyamas hingegen wirken wie Selbstfürsorgetipps. Sie können uns helfen, unbeschadet durch einen Verantwortungsprozess zu kommen.

      Gerade bei der Übernahme von Verantwortung ist es wichtig, gut bei sich zu bleiben und auf die eigenen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Burnout ist besonders bei helfenden Berufen und in Bereichen mit großem Engagement häufig zu finden. Denn je begeisterter und idealistischer man an eine Sache herangeht, desto eher verdrängt man die eigenen Bedürfnisse. Unser Körper und unser Geist brauchen aber auch Ruhe, äußere und innere Pflege als Ausgleich. Dafür braucht man sich nicht zu schämen. Im Gegenteil: Im Sinne des Yoga sind wir dazu sogar moralisch verpflichtet!

      Für den Soziologen Emile Durkheim, dessen Kriterien von Moralität ich an späterer Stelle vertiefend zitieren werde, hatten solche Regeln im Jahre 1903 keinen moralischen Wert: »Es hat nichts Moralisches, auf meine Gesundheit und meine Bildung zu achten; meine Tat wechselt aber die Natur, wenn ich auf die Gesundheit meiner Mitmenschen achte, wenn ich ihr Glück oder ihre Bildung im Auge habe.«30 Vielleicht würde Durkheim das heute auch etwas differenzierter sehen. Für mich als Yogapraktizierende sind Gesundheitsbewusstsein und Selbsterforschung jedenfalls zutiefst moralisch. Denn die spirituelle Entwicklung ist im Yoga ebenso wichtig wie die Entwicklung im Außen. Wir rechnen das nicht gegeneinander auf, sondern schätzen die sich gegenseitig fördernden Wirkungen.

      Im Unterschied zu den Yamas, wo ich die Möglichkeit erkenne, mich auf eines von fünf zu spezialisieren und mein soziales Engagement ganz einem Thema zu widmen (zum Beispiel Einsatz gegen Gewalt, Einsatz für Pressefreiheit, Engagement für achtsamen Konsum) verstehe ich die Niyamas viel mehr als ineinandergreifende Prinzipien, die einen Weg bzw. einen Prozess der Selbsterkenntnis beschreiben – vom Abstandnehmen und Ankommen im Yoga bis zur Hingabe aller Gedanken und Anspannungen. Es ist jedenfalls sinnvoll, sie der Reihe nach zu erforschen und sich allen fünf zu stellen. Die Abfolge ist nicht zwingend, auch wenn Saucha zum Start im Sinne von Abstandgewinnen sicher am meisten Sinn ergibt. Jedenfalls braucht es alle fünf Niyamas, um sich auf dem Übungsweg Yoga weiterzuentwickeln.

      Das Übungsfeld abstecken

      Beginnen wir mit den Niyamas, denn es ist wesentlich leichter, diese in einem Übungsfeld zu verorten. Da sie Empfehlungen für einen Erfahrungsweg im eigenen Spüren sind, womit wir auch unsere inneren Ressourcen erschließen können, empfiehlt sich ein klassisches Yogasetting. Wir praktizieren meist auf einer ca. 180 x 80 cm großen Matte, eventuell noch unterstützt von einem Sitzkissen und einer Decke, wir haben den Raum vorher gelüftet, üben alleine oder gemeinsam in einem Kurs. Für Selbsterforschung und weitere Inspiration kann es nützlich sein, sich mit ein paar guten Büchern zu umgeben sowie Bleistift und Papier für Notizen und tiefergehende Überlegungen in Reichweite zu legen.

      Unter welchen Bedingungen aber können Yamas, die moralischen Grundwerte, geübt werden? Wie kann ich dafür ein Übungsfeld abstecken? Was braucht es, um Moral eine Struktur zu geben, entlang der ich dann konkrete Überlegungen anstellen kann? Ich weiß, wie ich seriöse Asanapraxis anleiten kann, aber welche Ansprüche stelle ich an mein moralisches Denken, um von einer allzu großen Beliebigkeit wegzukommen?

      Exemplarisch hierfür ist die Arbeit der Soziologen Andreas Hajdar und Dirk Baier. Sie haben 2004 eine Studie publiziert, in der sie die Übernahme von sozialer Verantwortung an Chemnitzer Jugendlichen beforschten.31 Dafür brauchten sie Klarheit über die »Beschaffenheit moralischen Denkens« aus einer soziologischen Perspektive. Sie bedienten sich dabei der Vorarbeiten des französischen Soziologen Emile Durkheim und seiner Definition von Moralität.

      Durkheim gilt zwar als Gründungsvater der Soziologie, hat aber ebenso leidenschaftlich Pädagogik unterrichtet. Erziehung war für ihn ein wichtiger Teil der Soziologie, eine soziale Tatsache.32 In einer Vorlesungsreihe 1902/03 an der Sorbonne versuchte er, die ausschließliche laiische Moralerziehung, die Frankreich damals seit zwanzig Jahren verfolgte, durch eine reine vernunftmäßige moralische Erziehung, »der jede Anleihe auf die Prinzipien untersagt ist, auf denen die offenbarten Religionen beruhen«,33 weiter zu untermauern. Er suchte also nach dem Grundlegenden und Wiedererkennbaren, das in jeder Moral zu finden sein muss, und trug drei Elemente der Moralität vor:

      1. Element der Moralität »Der Geist der Disziplin«: Dieser besteht erstens aus Regelmäßigkeit, also aus festen Gewohnheiten, und zweitens aus einer Autorität, die man respektiert. Welche Autorität ist aber damit gemeint? Gott ist es nicht – ist es ein:e einzelne:r Lehrer:in? Für Durkheim ist es die Autorität der Kollektivität34 und der kollektiven Meinungen: »Das Individuum muss derart wesend sein, dass es die Höherwertigkeit der moralischen Kräfte fühlt und sich vor ihnen beugt.«35 Sich-Beugen heißt, sich selbst Grenzen zu setzen, heißt auch, zu verzichten. Diese internalisierten kollektiven Meinungen wirken also nach Durkheim wie ein:e Lehrmeister:in: »Denn durch sie lernen wir jene Zurückhaltung der Wünsche, ohne die der Mensch nicht glücklich sein könnte.«36 Als fortschrittlicher Pädagoge war ihm klar, dass dies nur bedeuten kann, Menschen zu ermutigen, sich entsprechend ihrer Individualität und ihrer eigenen Natur zu entwickeln. Verzicht braucht es trotzdem, weil der Mensch einfach ein begrenztes Wesen ist. Kritik darf angebracht werden, der Verzicht, den Durkheim meint, basiert auf einer inneren Erkenntnis.

      2. Element der Moralität »Anschluss an die soziale Gruppe«: Moral existiert nur in einem Kollektiv, wodurch der Mensch lernt, das Kollektiv in die Handlungsplanung zu integrieren. Hier wird eine Idee formuliert, die Iris Marion Young etwa hundert Jahre später auch einfordert, wenn sie schreibt, dass strukturelle Ungerechtigkeit nur im Kollektiv gelöst werden könne.37 Moral ist also per se sozial.

      Der Yoga sieht das naturgemäß anders: Moralische Entwicklung ist im Yoga auch in der Isolation, auf dem Weg einer inneren Erfahrung, möglich. Da ich diese Moralitätskriterien nur auf die Yamas anwenden möchte, entsteht hier aber kein Widerspruch.

      3. Element der Moralität »Geist der Autonomie«: Moral kann nur dann kollektiv verbindlich werden, wenn sie als individuelle Freiwilligkeit erlebt wird. Und dafür braucht es Wissen: »Das ist keine Autonomie, die wir fertig von der Natur bekommen, die wir bei der Geburt unter unseren Grundeigenschaften vorfinden. Wir machen sie uns selbst in dem Maß, wie wir die Dinge nach und nach besser begreifen.«38 Für Durkheim als Pädagogen hieß das, Moral nicht zu predigen oder einzutrichtern, sondern zu erklären.39

      Interessant finde ich, dass hier schon Yogabegriffe durchschimmern, die wir folglich auch noch bei den Niyamas wiederfinden werden: Tapas, die Regelmäßigkeit; Samtosha, die Zufriedenheit trotz Verzicht; Svadhyaya, die Selbsterforschung und das lebenslange Lernen. So können Niyamas also auch auf unser Engagement rückwirken: indem sie uns helfen zu verstehen, was Moral ausmacht.

      Ich möchte noch ein viertes Element für Moralität hinzufügen: die Zukunftsorientiertheit bzw. die Vision für eine enkeltaugliche Zukunft. Das haben wir ja aus der Geschichte der sozialen Verantwortung gelernt: Es braucht den Blick in die Zukunft!

      Nun können wir unser Feld entlang dieser vier Elemente aufspannen und Yoga-Moral konkret durchdenken. Ich bezeichne diesen