Aber was ist das eigentlich, das Ursprüngliche? Was verstehe ich darunter? Es ist das, was ich am Leben und an dem Glauben der Naturvölker in ihrer Beziehung zur Natur entdecke. Es ist das Reduzierte, das Eigentliche, das Wesentliche, was das Leben ausmacht: Geburt und Tod, Wohnen, Essen und Trinken, Arbeit, das Miteinander, immer in enger Verbindung mit der Natur, mit Mutter Erde. Pachamama, wie die Indigenen sagen. Es zeigt sich oft auch im künstlerischen Ausdruck sogenannter „Primitiver Völker“, in Ritualen und Festen.
Es ist das, was alle Menschen miteinander verbindet, unabhängig von ihrer Entwicklung und ihrer Kultur. Es ist das, was alle Menschen brauchen und gestalten in großer Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Es ist das, warum manche Menschen flüchten, weil sie es nicht haben und was die Reichen gar nicht mehr erkennen oder wertschätzen, weil sie es zu viel haben und das schon zu lange oder weil es bei allem Wohlstand seine Bedeutung und seinen Wert verloren hat, weil sie es gar nicht mehr sehen.
Reduktion und Einfachheit sind verbunden mit einer Konzentration, die zu Intensivierung des Lebens und Vertiefung der Wahrnehmung führen kann und zum Finden des Wesentlichen. Für mich jedenfalls.
Auf diese Suche, Suche in anderen Kulturen, wie machen sie es, ihre Nähe zur Natur, ihr Authentisches, Eigenes – werde ich mich begeben.
Ich denke manchmal, ursprüngliche Kulturen haben vielleicht andere, vielleicht bessere Antworten als wir. Ob das stimmt, weiß ich nicht, ich werde es herausfinden. Vielleicht ist es auch nur eine romantische Illusion.
Und dann treibt mich natürlich die Frage um: Was wird aus unserer Welt, die wir gerade und schon so lange zerstören, das Klima, das wir so verändert haben, dass Naturkatastrophen uns überfluten und wir nicht in der Lage sind, die Stimme der Natur – Pachamama – zu hören.
Ich habe mich gut vorbereitet. Natürlich musste ich Spanisch lernen. Damit hatte ich schon vor vier Jahren angefangen, immer mal wieder. Nach fünf Volkshochschulkursen, zwei Besuchen einer Spanisch-Schule in Malaga und auf Ibiza sowie Unterricht bei einer Privatlehrerin aus Kolumbien habe ich keineswegs das Gefühl, nun spanisch sprechen zu können. Es ist mühsam, erfordert so viel Disziplin und ich werde vergesslicher. Aber eine neue Sprache zu lernen ist das beste kognitive Training, das es gibt.
Jeder sagt, es klappt nur, wenn du vor Ort bist und sprichst: hablar, hablar, hablar ... und das stimmt.
Aber anstrengend blieb es zunächst und wenn ich die Möglichkeit hatte, mich auch englisch zu verständigen, so zog ich das vor, weil es mir so von den Lippen kam.
Aber mit der Zeit konnte ich mich dann doch mit einem kleinen Wortschatz mit den Einheimischen unterhalten. Am Schluss ging alles irgendwie aus dem Bauch heraus und ich hatte gelernt, fehlende Vokabeln wortreich zu umschreiben oder auf Spanisch nach ihnen zu fragen. Erleichternd war es, vor jedem Gespräch mitzuteilen, dass mein Spanisch ganz schlecht ist. Dann sprach man langsam und hatte keine großen Erwartungen. Zu meiner Freude konnte ich so auch eine Menge freundlicher Komplimente ernten, nämlich, dass ich sehr gut spanisch kann.
Das tat gut, auch wenn mir klar war, dass es nicht stimmte.
Jede Reiseerfahrung, jeder Eindruck ist subjektiv, jedes Bild ist durch meine Brille gesehen und erhebt nicht den Anspruch auf die Wahrheit über ein Land, das ich beschreibe. Diese Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Ich habe es so erlebt.
Ich will das unbedingt betonen, obwohl es eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist.
Nun sind viele Akten geschlossen und ich ziehe in die Welt, die so groß und so vielfältig ist und von der ich das Gefühl habe, dass ich sie gar nicht kenne.
Es ist ein Aufbruch. Und ein Aufbruch ist auch immer eine Trennung. Jede Trennung schafft Raum für Neues. Ein Aufbruch ohne Wiederkehr? Alles ist möglich.
Aber mich nehme ich mit, meine Biografie nehme ich mit.
Trennung entspricht meinen Wünschen nach Loslösung, Freiheit und Autonomie – Das sind immer schon wichtige Bedürfnisse von mir.
Als ich mich das letzte Mal mit Maria getroffen habe, hat sie mir erzählt, dass auf dem Boden ihres Balkons der Satz steht: „La Libertad hay que invertarla siempre“ (Die Freiheit muss immer wieder neu gefunden werden) von dem spanischen Dichter Jose Agostin Goytisolo. Und sie sagt: „Der Satz erinnert mich jetzt täglich an Deine Reise, an Dich und an die vielen Möglichkeiten, meine eigene Freiheit zu erfinden und auszuprobieren. Beispielsweise: warum nicht an die Endhaltestelle einer Straßenbahn fahren, die ich noch nicht kenne?“
Und natürlich ist das Reisen auch Selbstfindung. Flucht, wie manche meinen, ist es für mich nicht. Mir fällt nichts ein, vor dem ich fliehen wollte. Aber eine Suche ist es bestimmt, wobei ich nicht immer wissen muss, was ich suche. Vielleicht ist es eine Sehnsucht nach Entgrenzung, Abschütteln von alltäglicher Routine.
Und ich glaube nicht, dass die Welt kleiner geworden ist durch die Globalisierung. Auch wenn es auf der ganzen Welt Klimawandel und Internet gibt, bleibt sie so riesengroß und vielfältig. Auf der Suche sein ist unterwegs sein – ohne Ziel. Das macht es ja so spannend.
Argentinien
Buenos Aires
Der Billigflug wird dreimal verschoben. Meine Planung, nicht gerade um Mitternacht in Buenos Aires, einer völlig fremden Großstadt in Südamerika, anzukommen, misslingt total. Gelandet bin ich um 23.10 Uhr in der Nacht. Von Frankfurt mit einer Zwischenlandung in Santo Domingo und einer zweiten Zwischenlandung in Panama City plus Wartezeiten dauert es 18 Stunden bis nach Buenos Aires.
Aber was soll es, ich bin unterwegs. Der Flug über den Panamakanal und die Anden ist fantastisch und entführt mich auf einen fernen Kontinent.
Nachts anzukommen, ist dann doch nicht so schlimm, zumal ich mir ein Taxi zum Hotel vorbestellt hatte.
Aber aufgeregt bin ich und finde es irgendwie mutig von mir, mit 65 Jahren und Mini-Koffer, ich habe insgesamt acht kg dabei, allein in die Welt zu ziehen. Das meiste in meinem Koffer sind Medikamente. Da will ich autark sein. Den Rest, so glaube ich, kann ich überall kaufen, wenn ich etwas brauche.
Eine Sommer- und eine Winterhose, eine Regen- und Windjacke für jedes Wetter und ansonsten ein paar Basics und gute Schuhe – das muss reichen. Mütze, Schal und Handschuhe sind natürlich unverzichtbar.
Mir wird plötzlich bewusst, dass ich hier niemanden kenne und auf mich allein gestellt bin. Nur Mut.
Die Einreise ist einfach. Ich erhalte ein Touristenvisum für drei Monate. Im Flughafen von Buenos Aires gibt es vier Geldautomaten und alle sind leer. Das ist erst mal ein Schock, schließlich brauche ich argentinische Pesos. Ich erfahre, dass es kein Geld gibt, Inflation. Die Inflationsrate liegt bei 54 %, so hoch wie in den letzten 28 Jahren nicht. Das Land ist total verschuldet. Zweistellige Inflationsraten sind nicht ungewöhnlich hier.
Wie soll ich nun das Taxi bezahlen? Da muss ich wohl an meine kleine Dollarreserve gehen und zahle natürlich zu viel. Fängt ja gut an.
In den nächsten Tagen ist mein dringendstes Bedürfnis, alle möglichen Bankautomaten auszuprobieren, um an Geld zu kommen. Schon vor Öffnung der Banken stehen die Leute in langen Warteschlangen davor. Als ich endlich eine Bank finde, gibt es nur 200 Euro umgerechnet und das in kleinsten Scheinen. Im Hotel packe ich ein Riesenbündel aus, das in kein Portemonnaie geht und auch nicht in den Geldgürtel – es ist einfach zu dick. Ich werde diesen Geldautomaten die nächsten Tage ein paar Mal erleichtern. In dieser Situation gibt mir das Geld Sicherheit. Die vielen Scheine auf dem Bett kommen mir vor wie Donald Ducks Geldspeicher.
Das Hotel ist wunderschön in altem Kolonialstil mit großem Innenhof mitten im Zentrum von Buenos Aires in der Avenida de Mayo. Und es ist nicht mal laut – oh Wunder.
Buenos Aires hat circa drei Millionen Einwohner. Auf der Plaza de Mayo finden jeden Tag Demonstrationen statt, große und kleine, die Argentinier sind diesbezüglich ein sehr aktives Volk.
Am zweiten Tag gibt es einen Marathon bei strömendem Regen. Es stürmt