»Eine solche Wetterlage hat es seit den Aufzeichnungen ab dem Jahr 1864 noch nie gegeben … Was erwartet uns denn da?« Staub räusperte sich:
»Nun ja, zumindest bei uns nicht. Allerdings in Deutschland Ende 1978. Und aus den Erfahrungen von damals lässt sich sagen, dass wir uns auf das Schlimmste einstellen sollten. 28 Tote gab es 1978 während des viertägigen Sturms. Ein stabiles Hochdruckgebiet, von Nordwest her kommend, trifft auf ein außergewöhnlich großes südliches Tiefdruckgebiet mit sehr feuchten, instabilen Luftmassen. Dieses wird die arktische Luft geradezu aufsaugen. Das heißt ab morgen Mittag bricht, aus Nordwesten kommend, sehr kalte Polarluft über dem Mittelland ein. Wir erwarten in den nächsten Tagen zwischen Minus 18 bis Minus 20 Grad oder mehr, lassen Sie sich also von den steigenden Temperaturen morgen Vormittag nicht täuschen … und ja, durch die rasche Abkühlung der feuchten Luft wird orkanartig Schnee vom Himmel fallen, es handelt sich um den ersten Blizzard in der Schweiz, so etwas kennt man sonst nur in Nordamerika und Skandinavien …«
Der Sprecher unterbrach ihn:
»Sie redeten vorhin von 15 cm Schnee pro Stunde. Können denn unsere Hausdächer diesen Schneemassen überhaupt standhalten?«
Der Meteorloge beruhigte den Sprecher und damit wohl auch die Hörer:
»Unsere Häuser sind grundsätzlich robust genug, um dieser Menge Schnee Herr zu werden. Natürlich gibt es immer Einzelfälle. Wichtig ist einfach, alles festbinden, genügend Nahrungsmittel einkaufen, die Fensterläden schließen und warten, bis es vorbei ist. Dann passiert niemandem etwas.« Dann fuhr er jedoch fort: »Allerdings machen uns die Wildtiere erhebliche Sorgen. Der Anfang Dezember gefallene Schnee ist beinhart gefroren. Darauf kommt jetzt der neue Schnee zum liegen. Die Tiere finden kaum noch Nahrung. Nach dem Blizzard gar nichts mehr. Morgen wollten Behörden, Tierschutz und Schulklassen eine Fütterungsaktion im Schwarzen Forst durchführen. Daraus wird nun vermutlich nichts. Aufgrund der kommenden Schneemengen dürften die Tiere komplett isoliert werden. Es bahnt sich eine Tragödie an. Viele werden wohl verhungern … Dazu kommt, dass der Wilderer noch immer umgeht, er hat den Wildbestand erheblich dezimiert, seit zwölf Monaten schießt …«
Rhea traten Tränen in die Augen, sie ging zum Radio und stellte den Sender wieder um.
»Bad Moon Rising« von Creedence Clearwater Revival erklang. Sie drehte den Programmknopf weiter und Billy Macks Song »Christmas is all around« ging gerade zu Ende. Ein neuer setzte ein. Zuerst ein Keyboard, dann Kastagnetten und schließlich Roger Hodgson, der davon erzählte, wie magisch ihm alles in seiner Jugend erschienen war.
Rhea und Annas Vater Heinrich liebten Oldies und auch Anna mochte sie, obwohl sie deutschen Hip-Hop, insbesondere die Rapperin Namika, vorzog.
Liebevoll sah sie ihre Mutter an, als sich diese die Tränen aus den Augen wischte, drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe, legte ihre Hände wie Scheuklappen um ihre Augen und versuchte, durch die Schicht von Eiskristallen in die dunkle Nacht zu sehen.
»Mam, fallen die Sternschnuppen bald vom Himmel?«
Rhea, noch immer mit grüblerischem Gesichtsausdruck, streute Mehl auf den Küchentisch und schaute zu ihrer Tochter hinüber:
»Die ersten müsstest du jetzt schon sehen, Liebes. Im Radio sagten sie, sobald es dunkel werde, hagle es Geminiden im Minutentakt.« Dann nahm sie den gelb-glänzenden Teig aus der Schüssel und begann ihn auszuwallen.
»Ich kann aber gar nichts sehen, Mama, es ist viel zu dunkel!«, ulkte Anna. Ihre Mutter schmunzelte.
»Du musst die Blumen zum Schmelzen bringen, hauch sie an, dann kannst du hindurchblicken.« Natürlich war das Anna klar. Ihre Absicht war es gewesen, ihre Mutter auf andere Gedanken zu bringen.
Die junge Frau pustete, bis sie rote Backen bekam und das aufgetaute Wasser die Fensterscheiben hinunterlief. Draußen, in der dunklen, stillen Nacht, glitzerten die Sterne mit der Schneedecke um die Wette. Selbst dem Mond war es zu kalt und es schien, als ob er sich mit den wenigen vorbeiziehenden Wolken bedecken wollte.
Angestrengt suchte Anna den Vorweihnachtshimmel ab.
Bückte sich, schaute abwechselnd durch die untersten Scheiben, stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um durch die obersten zu spähen. Nichts.
»Hab Geduld, Anna. Wenn du Geduld hast, werden sie kommen. Aber nur dann. Und denk daran, wenn du eine entdeckst, hast du einen Wunsch frei. Aber denk auch daran, mein Schatz, du darfst ihn keinem Menschen verraten. Das ist ganz wichtig. Sonst wird er nicht in Erfüllung gehen!«
»Logo, Mam«, lachte diese und zwinkerte ihrer Mutter zu. Das Auf und Ab am Fenster ging so wohl gut zehn Minuten weiter und Anna wollte schon enttäuscht aufgeben, als es weit hinten über dem Schwarzen Forst aufblitzte.
Das weißliche Licht kam aus dem Nichts und blähte sich rasend schnell auf, sodass die Wipfel der Tannen, ja der ganze Forst und die schneebedeckten Felder, hell erleuchtet wurden. Die Kugel raste auf Annas geweitete Augen zu, über das Hausdach hinweg und ihr langer, feuriger Schweif zuckte hinterher. Das Haus erzitterte ob der gewaltigen Luftmasse, die der Meteor mit sich gerissen hatte.
Jäh wurde es still und mit der einsetzenden Stille erklang das knallende Klirren einer berstenden Kugel, die vom Weihnachtsbaum gefallen war. Dann ging das Licht aus. Der Schock ließ bei Mutter und Tochter nur langsam nach. Als aber der wieder einsetzende Strom die Küchenlampe zum Leuchten brachte, huschte ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau und wurde zu einem Grinsen.
»Jetzt kann ich mir etwas Riesengroßes wünschen.«
Obwohl sie längst zu alt war, um daran zu glauben, dass Sternschnuppen Wünsche erfüllten, kam ihr dieser Komet doch wie ein Zeichen vor. Ihr Wunsch musste in Erfüllung gehen.
Es dauerte an diesem Abend noch eine geraume Weile, bevor sich Anna beruhigen sollte. Ihr Vater Heinrich, der erst spät von der Arbeit heimkehrte, brachte sie sogar zu Bett. Als er sie zugedeckt hatte, blieb er noch eine Weile sitzen und Anna erzählte ihm nochmals und mit Inbrunst, wie die riesige Sternschnuppe über das Haus gerast sei. Und grinsend, dass jetzt der größte Wunsch, den es je auf der Welt gegeben habe, in Erfüllung gehen werde. Aber leider könne sie ihm das Geheimnis nicht verraten. Was Heinrich durchaus verstand. Als Anna langsam die Augen zufielen, schlich Heinrich aus dem Zimmer und ließ die Türe einen Spalt offen stehen. Ganz wie in früheren Zeiten.
Anna lag noch lange wach. Wie wohl ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde? Als Kater Django zu später Stunde zu ihr ins Bett schlich, deckte sie diesen halb zu und flüsterte ihm ihr Geheimnis ins Ohr. Und auch, dass nicht nur die eine riesige Sternschnuppe durch die Nacht gerast sei, sondern dass vielmehr eine ganze Familie, die Geminiden, jeden Dezember mit mehreren Hundert Kindern durch das All Richtung Erde flögen, um den Nachthimmel erstrahlen zu lassen. Und dass so, durch die vielen großen und kleinen erfüllten Wünsche, die Welt am Ende ein Stückchen besser würde. Anna stellte sich das gleißende, strahlende Licht der Geminidenfamilie und ihrer Sternschnuppen auf dem Weg durchs All zur Erde vor und schlief, mit dem Kater im Arm, darüber ein.
Donnerstag, 12. Dezember, 17:15 Uhr,Cappellen
Im Hospiz zur Heimat, dem einzigen Landgasthof und Hotel in Cappellen, wechselte am frühen Abend die Türe zur Gaststube von einer Hand in die andere. Kein Platz war mehr frei. Stand einer auf, um zu gehen, setzte sich gleich der nächste hin. Ganz zur Freude von Wirt und Hotelier Paul Lüthy. Es wurde allerhand diskutiert, gejammert und politisiert.
Zu reden gab insbesondere der Wilderer, der seit Monaten Tiere im Naturschutzgebiet schoss und deren Kadaver einfach im Forst liegen ließ. Man spekulierte, ob es wohl ein Auswärtiger oder einer von Cappellen sei. Kirchensigrist Tobias Kupfernagel beendete das Thema und meinte, es gebe halt solche, die das Böse gut heißen und das Gute böse, in deren Köpfen Finsternis herrsche, weil ihr Licht erloschen sei, und bestellte er sich die nächste Grüne Fee.
Heiße Köpfe