Die ersten Jahre ab 1982 bei der Polizei
Zu dieser Zeit gab es noch keine Computer und keine Mobiltelefone. Geschrieben wurde mit der Schreibmaschine auf Durchschlagpapier. Die Kollegen rauchten im Schreib- und Aufenthaltsraum. In den Nachtdiensten gingen wir von der Hauptwache (City Zürich) zu Fuß in die zugeteilten Reviere durch die Gassen des Zürcher Niederdorfs. Einer hatte einen Funk dabei. »Chönd er mal go luegä, im Johanniter hets e re- nitentä Gast« (Könntet ihr bitte mal schauen gehen, im Restaurant Johanniter hat es einen renitenten Gast), tönte es von der Einsatzzentrale. »Verstande, mir sind grad i de Nächi« (Verstanden, wir sind gerade in der Nähe), antwortete ich. Der Fall konnte mit dem Wirt und dem Gast vor Ort geschlichtet werden. Auf der Zähringerstrasse säumten ein paar Prostituierte die schwach frequentierte Straße. Ein Betrunkener befummelte eine Dame des ältesten Gewerbes, die sich dagegen wehrte, und damit hatten wir gleich den nächsten Fall zu lösen. Der Mann fauchte uns gehässig an. Das Feindbild existierte schon damals, es war aber nicht so omnipräsent wie heute, glaube ich.
Feindbild: Scheißbullen
Wir unterscheiden drei Phänomene des Feindbildes:
–Politisch fokussiert: fundamentalistisch ideologisch
–Chronischer Frust: persönliche, grundsätzliche Abneigung
–Sachbezogener Frust: temporäres Problem, z. B. Strafzettel wegen falschen Parkens
Der Hass, respektive das Feindbild, hat eine internationale Prägung. Wenn ein dunkelhäutiger, mutmaßlicher Verbrecher in den Slums der Großstädte von Paris oder New York erschossen wird, entwickeln die sich solidarisierenden Mitmenschen ein kollektives Feindbild gegen die Polizei, selbst wenn die Umstände nur vom Hörensagen bekannt sind. Das stellt eine gefährliche Spirale dar. Denn beim Einschreiten selbst entstehen neue Hassgefühle, allein deswegen, weil die Hüter des Gesetzes für Ordnung sorgen sollen. Die angesprochene Spirale kann ohne Detailkenntnisse von der ursprünglichen Tat (angeblicher Übergriff) hochgetrieben werden, vom Hörensagen gewissermaßen. Das ist vor allem deswegen gefährlich, weil damit auch Unwahrheiten geschürt werden. In den USA verbreiten sich Videos über polizeiliche Übergriffe wie ein Flächenbrand. Sie lösen meist unmittelbar heftige Proteste aus.
In den Augen der chronischen »Bullenhasser« stecken hinter den Uniformen und Zivilpolizisten keine sensitiven Wesen, sondern befehlsausführende Organe des Staates. Ich weiß nicht, wie hoch der Anteil der Bullenhasser in der Gesamtbevölkerung ist. Nur so viel ist sicher: Er liegt bestimmt nur im einstelligen Prozentbereich, hält sich aber hartnäckig und mutiert ständig durch neue Ereignisse.
Ich konstatiere: In der breiten Bevölkerung genießt die Polizei gutes Ansehen. Nicht aber bei den bezeichneten Personenkreisen, zum Beispiel in der linken Subkultur und bei den Hardcore-Fans der Fußballszene. Die ständigen Angriffe auf die Polizei und die zum Teil brachialen Auseinandersetzungen unter den Fußballfans sind gewissermaßen ein Gegenpol zum Gesamttrend. Auf diese Weise pervertiert, was im Großen gut läuft, denn die Jugend ist pragmatischer und vernünftiger als noch vor drei Jahrzehnten. Trotzdem kam es in Zürich im heißen Sommer 2018 immer wieder zu Angriffen auf die Ordnungshüter. Zum Beispiel musste die Stadtpolizei am 19. August 2018 wegen einer Messerstecherei an die Seepromenade ausrücken. Als die Rettungskräfte dort ankamen, wurden sie sofort angegriffen. Unter den Angreifern waren mutmaßlich auch FC-Zürich-Fans aus der Südkurve, die mit Steinen und Flaschen warfen. Die Polizei musste Reizstoff und Gummischrot einsetzen, damit die Verletzten versorgt werden konnten. Auch die Sanitäter wurden skrupellos angegriffen!
Solche Szenarien kommen leider immer wieder vor: Jugendliche, erlebnisorientierte und alkoholisierte Personen provozieren aus Langeweile Polizisten. Die Situation eskaliert, weil die von Adrenalin strotzenden jungen Leute den Verstand ausschalten und dabei einen aggressiven Solidarisierungseffekt auslösen. Die Polizei ist dann gezwungen, klare Schranken zu setzen und Gummischrot einzusetzen. Das wiederum führt zu einem gesteigerten Feindbild, das immer mehr Menschen anzieht. Die Konfliktbaustelle wird auf diese Weise größer und größer, was die Arbeit der Sicherheitskräfte nicht unbedingt erleichtert. Nur mit viel Geduld und Ruhe können solche Situationen bewältigt werden. Im beschriebenen Fall eskalierte das Geschehen nicht wegen falschen Parkens oder der Verhaftung eines Drogendealers, sondern wegen der besonders aggressiven Fußballfans.
Beispiele und Ausprägungen
Erstes Beispiel: Warum die Gegenseite Hassgefühle entwickelt Ein Extrazug mit etwa 650 Fußballfans fährt von Basel nach Zürich. Mehr als die Hälfte sind keine »Risikofans«, sind also nicht gewaltorientiert oder gewaltbereit. Laut Zeugenaussagen wollte ein Teil mit ordentlichen Zügen reisen, wurde aber am Abfahrtsort angewiesen, den bereitgestellten Extrazug zu nehmen. Somit saßen auch gesittete und friedliche Fußballfans im Zug. Unterwegs wird dann gesungen und getrunken, die Stimmung lockert sich immer mehr auf. Nichtsahnend werden die angereisten Fans in Zürich von einer riesigen Abteilung der Polizei in Vollmontur empfangen. Der Normalfan realisiert dies erst, wenn der Zug hält. »Wieso stehen die Bullen da«, fragt er einen Kollegen.
»Wahrscheinlich wegen uns«, bekommt er zur Antwort. Der Puls des Normalo steigt an, und er bekommt ein ungutes Gefühl. Folglich werden alle aussortiert und kontrolliert. Über 400 Personen werden vorübergehend festgenommen. Das führt zu einem kollektiven Frust, auch unter den friedlich gestimmten Fans. Man entwickelt eine massive Antipathie gegen die Bullen.
Die Fans empfanden die Kontrollen als reine Schikane und fühlten sich vorverurteilt und kriminalisiert. Und die Fans aus Basel warfen der Polizei eine unverhältnismäßige Verhaftungsaktion vor, mit der die Rechtsstaatlichkeit nicht gewahrt wurde und die schlicht eine Falle gewesen sei. Viele Fans verpassten das Match, weil sie erst Stunden später wieder freikamen. Eine Person blieb wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte in Haft. Die Polizei setzte damit ein Zeichen und das Feindbild verstärkte sich noch.
Zweites Beispiel: Party
Freiraum liebende Jugendliche mit kleinen Budgets treffen sich spontan zu einer Party auf offenem Gelände in der Stadt. Sie nehmen eine Musikanlage in Betrieb, die sie mitgebracht haben, und trinken sich in Festlaune. Viele der Beteiligten klagen darüber, dass die Clubs in der Stadt zu hohe Eintritts- und Getränkepreise verlangen. Daher suchen sie nach alternativen Partymöglichkeiten. Die Szene setzt sich nicht unbedingt aus Linksextremisten zusammen. Sie will partout keinen Stress mit den Bullen, sondern einfach nur eine geile Party abhalten, sei es am Letten oder unter der Brunau-Brücke (in Zürich). Eine erste Polizeipatrouille erscheint aufgrund einer Beschwerde der Anlieger wegen Lärms. Die Situation wird heikel, weil die Jugendlichen sich an diesem schönen Sommerabend nicht vertreiben lassen wollen. Schließlich gehöre die Stadt allen, wie sie argumentieren. Je nach Verhalten und Vorgehensweise beider Seiten besteht die Gefahr, dass die Situation eskaliert, was aber nicht sein muss. Ob das Ventil platzt, hängt letztendlich davon ab, wie die beiden Seiten reagieren.
Darum rebellieren die Jugendlichen
Den Aktivisten wird der Freiraum genommen, was dazu führt, dass sowohl die politisch engagierten als auch die apolitischen Jugendlichen das herrschende kapitalistische System hinterfragen. Die Sehnsucht, frei zu sein und sich gehen zu lassen, zeigte sich eindrücklich bei der 68er-Generation. Die jungen Leute brauchen solchen Freiraum auch, und das sind ihre Partys.
In Zürich entwickelte sich ab 2010 die sogenannte erlebnisorientierte linke Subkultur, an der sich Hausbesetzer, kreative Eventsprayer, Autonome, Punker und freie Schüler/Studenten sowie Einzelpersonen aus der Zürcher Südkurve des FC Zürich beteiligten. Dieser Personenmix (im Alter zwischen 18 und 28 Jahren) war es auch, der die gefürchteten RTS (6. Februar 2010/12. Dezember 2014) veranstalteten. Ferner wurden unangemeldete, illegale Schülerdemonstrationen und Solidaritätsmärsche für Flüchtlinge (»Refuges welcome«) sowie unerlaubte