475
Diese (innerstaatliche) Pflicht aller staatlichen Stellen zur Berücksichtigung der gesamten Spruchpraxis des EGMR hat das BVerfG verfassungsrechtlich über das Prinzip vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) abgesichert.[36] Nur auf diese Weise lassen sich Wertungswidersprüche zwischen der völkerrechtlich verbindlichen Achtung der EMRK im Außenverhältnis und ihrer Auslegung in der deutschen Rechtsordnung vermeiden.
476
In diese Richtung hatte bereits 2002 das BVerwG[37] argumentiert, indem es feststellte, dass der Auslegung der Konvention durch den EGMR über den entschiedenen Fall hinaus eine „normative Leitfunktion“ zukommt, an der sich die Vertragsstaaten zu orientieren haben. Lässt sich aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung des EGMR eine verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung feststellen, haben dem die deutschen Gerichte vorrangig Rechnung zu tragen. Diese “Beachtenspflicht“ rechtfertige sich aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag. Und weiter heißt es wörtlich:
477
„Die Feststellungsurteile des Gerichtshofs besitzen neben einer subjektiven, auf die konkrete Beschwer im Einzelfall bezogenen Bedeutung zusätzliche objektive, auf Rechtsklärung gerichtete Elemente. Die kollektive Garantie der in der Konvention verbürgten Rechte bliebe weitgehend ineffektiv, wenn sich die Wirkungen einer in gefestigter Praxis herausgebildeten Normauslegung in der Entscheidung von Einzelfällen erschöpften“.
4. Pilotverfahren
478
In der Regel nimmt der Gerichtshof nicht Stellung zu den Mitteln, mit denen eine Konventionsverletzung auf nationaler Ebene aufgehoben werden kann. Jedoch wurde beim Gerichtshof in der Vergangenheit häufig eine Vielzahl von Beschwerden mit demselben Beschwerdegegenstand anhängig gemacht, vor allem wenn ein bestimmtes Gesetz in allen unter die Norm fallenden Sachverhalten zu Verletzungen von Konventionsrechten führte oder bei sonstigen strukturellen Problemen (sog. repetitive cases).
479
In diesen Fällen ist der Gerichtshof nach seinem Grundsatzurteil im Fall Broniowski[38] dazu übergegangen, an die verurteilten Staaten zur Wiedergutmachung des festgestellten Konventionsverstoßes konkrete Empfehlungen auszusprechen. Im Urteil Broniowski empfahl der EGMR dem polnischen Staat die (zusätzliche) Ergreifung allgemeiner Maßnahmen (general measures) gegenüber rund 80 000 von der behandelten konventionsrechtlichen Fragestellung (Entschädigung für Grundstücksverluste nach dem 2. Weltkrieg) ebenfalls betroffenen Personen – unabhängig von der Wiedergutmachung im konkreten Einzelfall, der Gegenstand der Beschwerde war.
480
In der von der Rechtsprechung entwickelten sog. Pilot Judgment Procedure, die inzwischen in Rule 61 geregelt ist, greift der Gerichtshof eine von mehreren anhängigen vergleichbaren Beschwerden heraus und stellt in einem „pilot judgment“ fest, dass die gerügte Konventionsverletzung auf einem strukturellen Problem des Vertragsstaates beruht, etwa auf einer bestimmten konventionswidrigen Rechtsprechung oder verwaltungsrechtlichen Praxis oder auf einer mit der Konvention unvereinbaren nationalen Norm. Der verurteilte Staat soll daraufhin ein effektives Rechtsmittel vorsehen, das für alle potenziellen Bf. offen steht, die aufgrund desselben Defizits in ihren Rechten nach der Konvention verletzt sind Das Gericht beschreibt auch die Mittel, die der betroffene Staat ergreifen kann, um den konventionswidrigen Zustand zu beenden (Rule 61 Abs. 3). Die bereits anhängigen Beschwerden werden vorerst zurückgestellt, bis der Vertragsstaat entsprechende Maßnahmen ergriffen hat. Falls dies nicht innerhalb einer angemessenen Frist geschieht (Rule 61 Abs. 4), werden die Beschwerden wiedereröffnet (Rule 61 Abs. 6 lit. a, c; Abs. 8) und in einem summarischen Verfahren vor den Ausschüssen abgehandelt. Praktische Bedeutung hat die Pilot Judgment Procedure (lediglich) in Fällen schwerwiegender Konventionsverletzungen und wenn sich der innerstaatliche Missstand nicht auf andere Weise effektiv und zeitnah beheben lässt.[39]
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › V. Entscheidung über eine gerechte Entschädigung
1. Allgemeine Grundsätze
481
Die Konvention geht davon aus, dass eine vollständige Wiedergutmachung des festgestellten Konventionsverstoßes (restitutio in integrum) häufig nicht (mehr) möglich ist. Gestattet das innerstaatliche Recht eines Vertragsstaates nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Verletzung oder ist eine restitutio in integrum zwar möglich, vom Staat aber bisher nicht in die Wege geleitet worden, so kann der EGMR dem Bf. eine angemessene Entschädigung als Ausgleich für erlittene materielle und immaterielle Schäden zusprechen (Art. 41 EMRK)[40], die vom verurteilten Vertragsstaat zu leisten ist.[41] Bei Individualbeschwerden erkennt der Gerichtshof regelmäßig – aber nicht automatisch – auf eine Entschädigung, auch dann, wenn der Bf. auf nationaler Ebene eine Entschädigung verlangen könnte (eine Wiedergutmachung nach nationalem Recht also möglich ist), ihm deren Durchsetzung aber nicht zumutbar ist (Dauer; zweifelhafte Erfolgsaussicht).
482
Die Entschädigung i.S.v. Art. 41 EMRK umfasst
• | den materiellen Schaden (pecuniary damage) |
• | den immateriellen Schaden (non-pecuniary damage) |
• | den Ersatz der Kosten und Auslagen für die Rechtsverfolgung vor den nationalen Gerichten und vor dem EGMR, insbesondere die Gebühren für Rechtsanwälte (costs and expenses). |
483
Zu den Einzelheiten siehe Practice Direction – Just Satisfaction Claims (PD-JS; Stand: 14.11.2016). Voraussetzung für alle Posten ist, dass eine Entschädigung vom Verletzten rechtzeitig, also innerhalb der Frist für Ausführungen zur Begründetheit, geltend gemacht und ordnungsgemäß belegt wird (Rule 60, §§ 16 ff. PD-JS, siehe auch schon Rn. 287).
484
Stellt die Kammer eine Verletzung der Konvention fest, so entscheidet sie regelmäßig in demselben Urteil über die zu gewährende Entschädigung. Ist die Frage der Entschädigung noch nicht spruchreif, so erfolgt ein separates Urteil über diese Frage zu einem späteren Zeitpunkt (Rule 75 Abs. 1).[42] Die Parteien werden in der Regel aufgefordert, sich innerhalb einer vom Gerichtshof gesetzten Frist (meist sechs Monate ab Eintritt der Endgültigkeit des Urteils; Art. 44 Abs. 2 EMRK) schriftlich zur Frage der Entschädigung zu äußern.
485
Um das Verfahren zu verkürzen, sollten die Parteien im Anschluss an ein Urteil, das sich auf die Feststellung eines Konventionsverstoßes beschränkt, den