Ursachen von ME/CFS
Die meisten ME/CFS-Betroffenen sind, bevor die Krankheit ihr Dasein umkrempelt, völlig gesund und führen ein aktives Leben. Warum es dazu kommt, ist noch weitgehend ungeklärt. Bei den Ursachen scheint es sich um äußerst komplexe Vorgänge zu handeln, für deren besseres Verständnis in der Fachliteratur oft ein dreistufiges Modell herangezogen wird:
Stufe 1 – prädisponierende Faktoren (predisposing factors),
Stufe 2 – beschleunigende Faktoren (precipitating factors),
Stufe 3 – verfestigende Faktoren (perpetuating factors).
1 Prädisponierende Faktoren
Die prädisponierende Ebene ist multifaktoriell, und die Faktoren sind individuell recht unterschiedlich.
1.1 Genetische Prädisposition,
1.2 Ereignisse in der Umwelt, die einen Einfluss auf das neurologische System und auf das Immunsystem haben und die Empfänglichkeit für Infektionen erhöhen.
2 Beschleunigende Faktoren
2.1 Sehr häufig fungiert eine virale, eine bakterielle oder auch eine parasitäre Infektion als Auslöser/Trigger der Erkrankung.
Folgende Virusinfektionen werden mit ME assoziiert (die Liste ist nicht vollständig): Infektionen
– mit Herpesviren, zu denen u. a. das Epstein-Barr-Virus resp. das Pfeiffersche Drüsenfieber, das humane Herpesvirus Typ 6 (Auslöser des Dreitagefiebers und in seltenen Fällen einer Hirnhaut- oder Hirnentzündung u. a.) und das Cytomegalovirus (verursacht, wenn überhaupt, meist unspezifische grippeartige Symptome) gehören,
– mit dem Enterovirus, zum Beispiel dem Coxsackie-Virus (Hirnhautentzündung, Herzmuskelentzündung u. a.),
– mit dem Parvovirus B-19 (Ringelröteln, Gelenkschmerzen),
– mit Retroviren (Auslöser u. a. von HIV),
– mit Grippeviren,
– mit SARS und
– eventuell auch mit SARS-CoV-2 (Covid-19-Erkrankung).
Folgende bakterielle Infektionen werden als Trigger genannt (auch diese Liste ist nicht vollständig):
– die Lyme-Borreliose (meist ohne Symptome verlaufend, kann aber auch zu ganz unterschiedlichen Krankheitsbildern mit schweren Spätfolgen führen),
– eine durch Chlamydophila pneumoniae verursachte Lungenentzündung, durch Mykoplasmen verursachte Entzündungen (z. B. ebenfalls eine Lungenentzündung),
– Coxiella-burnetii-Infektion (Q-Fieber, das häufig keine oder nur leichte grippale Symptome auslöst, aber auch zu schweren Komplikationen wie etwa einer Herz-, Lungen- oder Leberentzündung führen kann),
– Legionellose (kann symptomlos bleiben, grippeähnliche Symptome oder gar eine schwere Lungenentzündung verursachen),
– Salmonellen (meist abrupt einsetzender Durchfall, begleitet von Bauchschmerzen, manchmal Erbrechen, Übelkeit und Fieber).
Diskutiert wird auch der Parasit Giardia, der die infektiöse Durchfallerkrankung Giardiasis hervorruft.
2.2 Vermutlich spielen manchmal, zusätzlich zu einer Infektion, noch andere Faktoren eine Rolle: Kontakt mit Gift, Pestiziden, Insektiziden oder Schimmel, ein körperliches oder auch ein schweres psychisches Trauma, eine Impfung, eine Chemotherapie u. a.
3 Verfestigende Faktoren
Der genaue Zusammenhang zwischen den beschleunigenden Faktoren (Triggern) und dem Ausbruch von ME/CFS ist nicht geklärt.
Im Folgenden seien ein paar Forschungsergebnisse angedeutet:
Als verfestigende Faktoren werden u. a. eine Dysregulation der Wege des Immunsystems (3.1), die Rolle von Infektionen (3.2), der Energiestoffwechsel der Muskeln (3.3), Prozesse des zentralen Nervensystems (3.4) und der Genexpression – wie kommt die genetische Information eines Gens zum Ausdruck? – genannt (3.5).
3.1 Dysregulation der Wege des Immunsystems: Für ein fehlreguliertes Immunsystem spricht die Tatsache, dass in Untersuchungen von ME/CFS-Patient:innen ein erhöhtes Level an Antikörpern, T-Zellen (weißen Blutzellen, die der Immunabwehr dienen) und Zytokinen (Proteinen, die bei der Koordination der Immunabwehr eine wichtige Rolle spielen) dokumentiert wurde, was auf eine chronische Aktivierung des Immunsystems hinweist.Die Trigger könnten auch eine Autoimmunität, eine Überreaktion des Immunsystems, verursachen, sodass dieses nicht nur körperfremde, sondern auch eigene Zellen sowie eigenes Gewebe angreift.
3.2 Bei ME/CFS-Betroffenen kommt es öfters zu Reaktivierungen von latenten Infektionen, welche ihrerseits eine Immunantwort provozieren.
3.3 Auffälligkeiten des Energiestoffwechsels der Muskeln beweisen, dass die Belastungsintoleranz (PEM, siehe auch Seite 190) nicht auf Inaktivität und De-Konditionierung zurückzuführen ist.
3.4 Das zentrale Nervensystem scheint eine Rolle zu spielen bei der Entstehung der mentalen und körperlichen Müdigkeit. Dabei könnten auch die Basalganglien im Hirn, bei denen Auffälligkeiten entdeckt wurden, involviert sein. Radiologische Verfahren (MRI, SPECT, PET) dokumentieren pathologische Zustände vor allem in den basalen Gehirnregionen bei ME/CFS- und bei Long-Covid-Patient:innen.In mehreren Studien konnte zudem eine Neuroinflammation (eine Entzündung von Nervengewebe in Gehirn und Rückenmark) nachgewiesen werden.
3.5 Es scheinen einige Auffälligkeiten bei der Genexpression von ME/CFS-Patient:innen vorzukommen, zum Beispiel das vermehrte Auftreten von Genvarianten (Gen-Polymorphismen).Doch diese Erkenntnisse und auch die zahlreichen weiteren Störungen, die als verfestigende Faktoren genannt werden,7 reichen nicht, um das große Spektrum an ME/CFS-Symptomen zu erklären.
3 In der Schweiz: Die Sekundarstufe I schließt an die Primarschule an. Darauf folgen die Berufsbildung oder eine weiterführende Schule (Maturitätsschule oder Fachmittelschule).
4 Die Orthomolekularmedizin ist eine alternativmedizinische Methode, die auf der Annahme basiert, ein biochemisches Ungleichgewicht im Körper könne Krankheiten verursachen. Dieses Ungleichgewicht wird mit – zum Teil hochdosierten – Mineralstoffen, Spurenelementen, Vitaminen, essenziellen Fettsäuren etc. ausgeglichen.
5 Polymorphismus: das Auftreten mehrerer Genvarianten; Dehydrogenasen: Wasserstoff abspaltende Enzyme; autonome Neuropathie: Störungen der autonomen Nerven, die ohne Involvierung des Bewusstseins Körperabläufe regulieren; oxidativer Stress: Stress auf der Ebene des Zellstoffwechsels.
6 Die Herberge Häutligen gibt es offenbar in dieser Form nicht mehr.
7 Folgende Störungen werden ebenfalls als verfestigende Faktoren genannt:
– eine Störung im Stickstoffmonoxid/Peroxinitrit-Zyklus (Stressoren führen zu erhöhten Werten von Stickoxiden, die zusammen mit Peroxinitrit, einem Folgeprodukt, die Entwicklung von chronischen Erkrankungen verursachen könnten – nach Dr. Martin L. Pall);
– eine chronische partielle Blockade des Methylierungszyklus (sehr vereinfacht heißt das, dass eine genetische Prädisposition sowie verschiedene Stressoren zu einem erhöhten Bedarf an Glutathion führen, das in Entgiftungsprozessen des Körpers und bei der Bildung von Proteinen eine wichtige Rolle spielt; der Mangel an Glutathion wiederum führt zu einer Ansammlung von Giften, die ihrerseits eine partielle chronische Blockade des Methylierungszyklus zur Folge haben; der Methylierungszyklus ist für zahlreiche wichtige zelluläre Prozesse verantwortlich