„Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ möge dazu beitragen, dass das Wissen über ME/CFS verbreitet wird. Das Buch möge die Gesellschaft für die höchst belastende Situation der Betroffenen sensibilisieren und diese in ihrem Kampf um die Anerkennung von ME/CFS als eine körperliche Multisystemkrankheit unterstützen.
Doch warum ist denn diese Tatsache, dass es sich bei ME/CFS um eine körperliche Krankheit handelt, überhaupt so zentral? Ist ein psychisches Leiden nicht genauso ernst zu nehmen wie ein körperliches? Natürlich ist es das; jedes Leiden, sei es psychisch oder körperlich, ist individuell und kann nicht gemessen werden. Es geht ja auch gar nicht um ein Abwägen. Zudem bilden Körper und Seele eine Einheit und beeinflussen sich gegenseitig. Aber wenn die körperlichen Symptome der ME/CFS-Betroffenen als Depression, chronische Erschöpfung, Burnout oder posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und sie als psychisch Kranke gesehen werden, dann werden sie nicht an die richtigen Spezialist:innen weiterverwiesen, und ihre Behandlung – mit einer Psychotherapie etwa und/oder mit Psychopharmaka – wird erfolglos oder gar kontraproduktiv sein.
„Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ soll aber auch einen Einblick geben in die schwierigen Lebensumstände der ME/CFS-Betroffenen: Wie hat sich Nenad Kovačić gefühlt, als ihn die Krankheit dazu zwang, die mit viel Herzblut aufgebaute, florierende Designagentur zu verkaufen? Was geht in Jacqueline Rölli vor, wenn sie in einem abgedunkelten Zimmer auf ihrem Bett liegt – mit Sonnenbrille und Ohrstöpseln, um Licht und Geräusche abzublocken, und kaum fähig, den Löffel zum Mund zu führen, geschweige denn, ohne Hilfe zur Toilette zu gehen? Was macht es mit Mélina Imdorf, wenn alle möglichen Spezialist:innen sie für gesund erklären, obwohl sie schwer krank ist?
Bevor ich die konkrete Arbeit an meinem Buchprojekt aufnahm – ein Konzept entwickeln, ME/CFS-Betroffene suchen, die sich porträtieren lassen wollen, einen Finanzierungsplan aufstellen, ein erstes Interview führen und verfassen und so weiter –, besuchte ich Mélina in Mühlethurnen, einem Dorf in der Nähe von Bern. Denn sie war es gewesen, die mich auf diese rätselhafte Krankheit aufmerksam gemacht und den Wunsch geäußert hatte, ich möge ein Buch darüber schreiben, um die Gesellschaft aufzuklären und Verständnis für die Betroffenen zu wecken. Dieser Besuch in Mélinas Zuhause sollte meine Sicht auf die Krankheit verändern:
In der lichtdurchfluteten Wohnküche mit Ausblick in die Berge am Horizont, auf die saftigen Wiesen mit den friedlich grasenden Pferden, darüber die ruhig ihre Runden drehenden Milane, ist mir sofort wohl. Wir sitzen am Esstisch und plaudern angeregt: über Mélinas Ausbildung zur Rhythmiklehrerin, über ihre Liebe zu den Pferden, über ihre Leidenschaft zu tanzen, von der sie nur noch träumen kann, über ihre Odyssee quer durch den Dschungel der Schweizer Medizinlandschaft, über ihr jetziges Leben. Mélina vergleicht es mit einem Leiterspiel: Sie würfelt täglich und weiß nie, ob sie nach dem Würfeln auf einem Feld mit einer vorwärts führenden Leiter oder auf einer rückwärts gewandten Rutschbahn landet, ob ein guter Tag auf sie wartet oder einer voller Schmerzen und bleierner Müdigkeit.
Mélinas Augen glänzen, während sie erzählt, und ich frage mich, warum. Sehe ich ihr inneres Flämmchen, von dem sie sagt, sie müsse es sorgsam hüten und nähren, damit sie den Alltag bestehe und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht verliere? Sind es meine Anteilnahme, mein Interesse, mein Da-Sein, die Mélina guttun und das Lichtlein angezündet haben? Ist es die Trauer über das verpasste Leben, das ihre Augen feucht werden lässt? Oder ist es vielleicht gar die Krankheit, die einen fiebrigen Glanz erzeugt?
Immer wieder muss ich mir in Erinnerung rufen, dass Mélina krank ist, denn bis auf dieses leise Leuchten in ihren Augen, bis auf ihre zarte, fast durchsichtige Erscheinung kann ich es ihr nicht ansehen. Sie wirkt recht vital, kann durchaus energisch auftreten und hat keinerlei sichtbare Behinderung. Sie kann gehen, kann alle Glieder bewegen und sieht und hört bestens, ja, vielleicht sogar zu gut, denn manchmal macht ihr eine Überempfindlichkeit auf Lichtreize und Geräusche zu schaffen.
Doch das ist ja gerade ein zentrales Problem der ME/CFS-Betroffenen – zusätzlich zu der Krankheit selbst natürlich –, dass man ihnen diese nicht ansehen kann. Dass man ihnen nicht glaubt. Dass man sie auffordert, sich zusammenzureißen. Dass die allermeisten Hausärztinnen und -ärzte noch nie von der Krankheit gehört haben. Dass sich, auch wenn nach Jahren endlich die Diagnose ME/CFS gestellt wird, kaum Fachpersonen finden lassen, die sich mit der Krankheit auskennen, und dass es noch keine angemessene Behandlung gibt, sondern nur die einzelnen Symptome gelindert werden können – von einer Heilung ganz zu schweigen.
Ich sitze also Mélina gegenüber und versuche nachzuvollziehen, was sie durchmacht. Und ich muss zugeben: Ich schaffe es nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, was es heißt, höchstens ein paar Hundert Meter gehen zu können, ohne vor Anstrengung erschöpft zu sein; was es heißt, jeden noch so kurzen Spaziergang mit einer Verschlimmerung der Beschwerden und Schmerzen bitter bezahlen zu müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlen mag, wenn meine Armmuskeln so rasch ermüden würden, dass ich mein Haar nicht selbst föhnen könnte, wenn ich beim Falten der Wäsche nach weniger als zehn Kleidungsstücken eine Ruhepause einlegen müsste, wenn mein Kopf nach drei Minuten vor dem Computer zu explodieren drohte.
Natürlich, ich sehe das als Tagesbett eingerichtete Sofa in der Wohnküche, ich nehme wahr, wie Mélina immer wieder gähnt, obwohl sie gerade erst von einem längeren Mittagschlaf aufgestanden ist, und wie müde sie das Plaudern macht. Aber ihre ständigen Kopfschmerzen und die schlimmen Verhärtungen der Nackenmuskulatur nachzuempfinden, die nur nach der einmal pro Woche erfolgenden Physiotherapie für kurze Zeit nachlassen, das fällt mir nicht leicht.
Dass mich jedoch dieselben Vorurteile prägen, die Mélina und alle an einer unsichtbaren Krankheit leidenden Menschen verletzen, diesen Vorwurf hätte ich vehement abgestritten – bis sie mir zwei Wochen nach diesem ersten Besuch klar und deutlich vor Augen geführt wurden. Ich traf mich zu einem Plauderstündchen mit einer Bekannten. Sie fragte mich nach meinem neuen Buchprojekt, und ich erkundigte mich nach ihren gesundheitlichen Problemen, mit denen sie kämpft, seit ich sie kenne: Mal war es eine Grippe gewesen, mal eine Erkältung, mal eine Lungenembolie, mal ein rätselhafter Fieberschub, diesmal nun geschwollene Lymphdrüsen und immer auch eine tief sitzende Müdigkeit. Natürlich nahm ich einmal mehr Anteil an ihren Problemen und wünschte ihr, wie schon so oft, gute Besserung, viel Kraft und neue Energie. Was mich allerdings erneut befremdete: Warum saß sie immer zu Hause rum, anstatt die wunderschöne Gegend, in die sie eben umgezogen war, zu erkunden? Insgeheim dachte ich: Wenn du hinaus in die Natur gingest, würde das deiner Gesundheit bestimmt zuträglich sein. Der Anblick der Berge, der Duft der Wiesen und das Plätschern der Bächlein – sie würden dich erfreuen. Jeden Tag ein kurzer Rundgang an der frischen Luft, am Wochenende ein Spaziergang und hin und wieder vielleicht sogar eine bescheidene Wanderung oder eine Fahrradtour, das müsste doch wohl drin liegen. Dann könntest du besser schlafen und würdest weniger häufig krank. So dachte ich, aber natürlich verkniff ich mir jegliche Bemerkung.
An diesem Abend nun, als sich meine Bekannte über ihren Irrweg durch das Gesundheitswesen, über inkompetente Ärzte und Ärztinnen und die ständig wechselnden Diagnosen beklagte, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Wie ähnlich war doch ihre Leidensgeschichte derjenigen der ME/CFS-Betroffenen! (Übrigens würde später von ärztlicher Seite her der Verdacht geäußert werden, dass es sich bei ihr um ein Long-Covid-Syndrom handeln könnte.) Ich fühlte mich ertappt wegen meiner geheimen Gedanken: Entsprachen diese nicht ganz genau den Vorurteilen, mit denen ME/CFS-Betroffene ein ums andere Mal konfrontiert sind und die ich mit meinem Buch abbauen möchte?
Vorurteile sind sehr heimtückisch: Sie sitzen oft so tief, dass man sich ihrer nicht bewusst ist und sie folglich auch nicht angehen kann. Vielleicht lassen sich ja die Leser:innen von „Leben mit ‚kaputtem Akku‘“ dazu bewegen, in sich hineinzuhorchen und den eigenen Vorurteilen nachzuspüren? Es sind zwei getrennte Lebenswelten: diejenige der in der Gesellschaft (mehr oder weniger) funktionierenden Menschen und diejenige der chronisch Kranken, die aus dem Alltag und aus der Zeit gefallen sind, die von der Gesellschaft nicht ernst genommen, ja, die oft überhaupt nicht mehr wahrgenommen