„Die Frau Carmela ist wieder schrecklich, sie ist nicht zum Aushalten heute!“ Und dann sagen sie zu mir, wenn ich abends um 19.00 Uhr komme: „Wenn Sie da gewesen sind, ist sie danach ganz anders; wie machen Sie das bloß?“
Diese Pflegefachfrauen wussten von diesem „Geheimnis“ nichts, noch nichts. Sie gaben weltlich ihr Bestes, doch dass es darüber hinaus mehr braucht, das war ihnen – wie mir anfänglich auch - verschlossen. Wir müssen zuerst davon selbst angerührt werden. Nur so kann uns nach und nach aufgehen, dass es darüber hinaus noch was anderes gibt. Das ist ein langer, oft auch steiniger Weg, aber es lohnt sich, ihn zu entdecken und zu gehen!
Beatrix, 18
Beatrix war eine junge Frau von der Gasse. Sie lag eines Nachts im Sterben. Gepackt von einer inneren Unruhe, war sie die ganze Nacht wach. Ein bisschen skeptisch war sie schon, als sie mich sah. Vermutlich erinnerte ich sie an ihre Mutter. Ich stellte meinen Stuhl so hin, dass reichlich Platz war zwischen ihr und mir. Ich wartete auf ein Zeichen.
„Ach, ich kann nicht schlafen, mir tut alles weh“, klagte Beatrix nach einer Weile.
Ihr Leib war gezeichnet von der Magersucht, ihre dünnen Arme zerstochen, Zeichen von der Gasse. Verzweifelte junge Frau. Achtzehn Jahre erst.
Wir begannen miteinander zu reden. Beatrix wurde immer wacher, ihre Leibschmerzen standen nicht mehr im Vordergrund. Vordergründig war nun ihr missratenes Leben, das vor Jahren unwiderruflich auf eine schiefe Bahn geraten war.
Beatrix erzählte von der Lieblosigkeit zu Hause und von den jungen Leuten, bei denen sie sich angenommen wusste, Drogenleute.
„Besser diese geschwächte Gruppe als mauseallein“, sagte sie.
Sie tat mir leid, diese junge Frau, furchtbar leid. Ihr Leben ging in schnellen Schritten dem Ende entgegen. Ich sah ihr das an. Sie wusste es von sich selbst. Sie wusste auch, dass ich es wusste. Es war etwas in dem Zimmer, das hieß: Bald wird mein irdisches Leben zu Ende sein!
Wenn wir Sterbende begleiten, werden wir erleben, wie sich jemand des unmittelbar bevorstehenden Todes bewusst ist, auch wenn die Besucher oft unüberlegt sagen: „Morgen geht es dir sicher wieder besser!“ Dumme Sprüche sind das, die den leidenden Menschen oft tief verletzen.
Noch blieb uns eine ganze, lange Nacht. Zwei fast leblose Augen, die um Hilfe schrien, schauten mich stundenlang an. In diesen Augen war eine abgrundtiefe Einsamkeit sichtbar, die mich sehr nachdenklich stimmte.
Gegen Morgen setzte sich Beatrix an den Bettrand, senkte ihren Kopf und sagte:
„Hätte ich das alles gewusst, was wir jetzt miteinander gesprochen haben, wäre mein Leben nicht so verschissen herausgekommen!“
Ich wusste damals schon, dass wahre Reue und Umkehr bis zum letzten Atemzug möglich sind. Ich meine das nicht als ein Müssen oder Sollen: „Du sollst bereuen!“ Ich meine etwas anderes. Ich habe erlebt, wie Friede kam kurz vor dem Tod, vollständiger, endgültiger Friede. Es geht in allem und jedem um die Anwesenheit Gottes hier bei uns; und dieser wahre Friede ist die Form Seiner Anwesenheit.
Sie sollen eines wissen: Der Friede, dieser gelöste Friede, der eine Seligkeit ist, welche nichts Altes, Verkrümmtes mehr stehen lässt, ist nur durch Gottes Anwesenheit unter uns landläufigen Menschen möglich.
Habe ich’s doch gewusst, dass Reue und Umkehr bis zum letzten Atemzug möglich sind. Aber diese junge Beatrix wollte nicht. Sie hätte noch die Kraft gehabt. Aber sie wollte nicht. Ihre Enttäuschung vom Leben war zu groß. In aller Verzweiflung legte sie sich zurück aufs Bett, wendete sich ab und zog sich wie ein Embryo zusammen. Zusammengekauert und apathisch lag sie da, als wäre sie schon verstorben.
Unzählige Male versuchte ich in dieser langen Nacht, diese junge Frau aus ihrem Eingesperrt-sein herauszulocken, denn sie war wach. Aber es gelang mir nicht. Beatrix wollte nicht. Sie blieb in ihrer Verweigerung und schloss sich darin ein. Fünf Stunden später war sie tot.
Es ist für mich wohl die schwierigste Nacht in diesen zweiundzwanzig Jahren gewesen.
Damals, in jener Nacht, ist mir gezeigt worden, dass die Herzenswärme der Schlüssel zum Leben und Sterben ist. Und dass die Herzenswärme also auch der Schlüssel zu Ihrem und meinem Leben ist.
Wir wissen das alle schon längst. Die Frage ist doch: Trifft es auch unser Herz, so dass wir es leben?
Stefan B., 78
Es war vor langer Zeit, da wurde ich zu Stefan B. gerufen. Leidend lag er da, nackt, der Leib verstellt mit einer kindskopfgroßen Geschwulst, nur in Windeln gewickelt, ganz armselig. Der Anblick war traurig und auch unschön.
Stefan sprach kein Wort. Konnte er nicht mehr, oder wollte er nicht? Sprach ich ihn an, gab er mir kein Zeichen. Wie nur konnte ich herausfinden, was er brauchte? Sein Gesicht war sterbend. Grau und fahl mit einer spitzigen Nase. Sein Atem äusserst mühsam.
Die Pflegerin hatte keine Ahnung, ob er ein gläubiger Mann war. Auf seiner Karteikarte sei nichts erwähnt, meinte sie teilnahmslos. Mich trifft solches immer wieder, ist doch das Religiöse das Fundament eines jeden Lebens. Wie will einer ein gutes Leben haben ohne Rückbindung zum Schöpfer? Wie will sich ein leitender Berufsmann oder eine Berufsfrau, bestens ausgebildet, ein Leben lang um Menschen kümmern, wenn ihnen diese Ebene verschlossen ist?
Solche und viele ähnliche Fragen gingen mir am Anfang dieser Nacht durch den Kopf. Ich wurde hilflos, innerlich sogar leicht aufgebracht. Sollen sie doch alle leiden, dachte ich! Solch freche und ungehaltene Gedanken stiegen mir auf, und ich schämte mich tief.
Sachte deckte ich Stefan mit dem Leintuch zu, mehr weil ich diesen nackten sterbenden Anblick nicht aushielt. Aber er strampelte das Leintuch augenblicklich wieder weg. Solches Verhalten traf ich immer wieder an; oft leidet nämlich der Leib so entsetzlich, dass sogar das sanfte Berühren eines Leintuchs brennenden Schmerz auf der Haut auslösen kann. Ich setzte mich am Fußende des Bettes auf einem Stuhl.
Also wird Stefan nun die ganze Nacht durch nackt und in Windeln eingepackt vor mir liegen? Selbst nach vielen Wachenächten war es für mich nicht einfach, diesen Anblick stundenlang auszuhalten. Dann die Geschwulst am Kopf.
Wir schwiegen beide ein bisschen in die Nacht hinein. Es ist schwierig, in solchen Situationen nicht müde zu werden und sich nicht ablenken zu lassen von tausend Dingen.
Gegen Mitternacht nahm ich den „Akathistos“-Hymnus aus meinem Korb hervor. Er gehört zu jenen Kleinigkeiten, die mich stets begleiten, wenn ich in eine Sterbe-Nacht gehe. Vierundzwanzig Strophen sind’s, ein Loblied auf die Muttergottes und auf Christus. Über Jahrhunderte wurde er in den östlichen Klöstern gesungen. Neunzehn Strophen hatte ich zu Hause gelassen, fünf aber waren da. Ich begann zaghaft und leise zu summen und beobachtete Stefans Gesicht. Sein Atem wurde ruhiger, sanfter.
Als ich nach einer Weile diesen Hymnus leise mit Worten sang, stellte ich fest, dass sich der leidende Leib von Stefan entspannte. Alles an ihm wurde weicher. Ich sang und sang, eine Stunde, zwei Stunden lang und mehr. Nach und nach wandelte sich sein Klinikzimmer in eine Kapelle, erfüllt vom Geiste Christi und Mariens.
Da, plötzlich füllten sich seine sterbenden Augen mit Wasser. Eine Träne rann ihm über die Schläfe aufs Kissen. Eine zweite folgte, und daraus gab’s einen ganzen Bach.
Sachte ging ich an sein Bett. Wortlos trocknete ich Stefan sein Gesicht. Er, der stumm schien, begann zu reden:
„Singen Sie weiter, das ist so schön! Das ist genau, was ich nun brauche.“
Und also sang ich so lange wie mich meine Stimme trug, immer wieder Strophe eins bis fünf; und was in mir geschah, überraschte mich: Ich hielt den nackten, leidenden Leib von Stefan