Es war eine warme und innige Atmosphäre damals beim Beat, aber ich wagte nicht, mit ihm zu beten. Meine Unbeholfenheit war groß, denn ich war damals im Gebet viel zu wenig verwurzelt, als dass ich mit einem Sterbenden hätte beten können. Zudem war ich berührt zu merken, dass dieser Patient trotz seiner Schwerhörigkeit mein leises Sprechen verstand.
Gegen 04.00 Uhr morgens hauchte Beat sein irdisches Leben aus. Sanft verliess er diese Welt. Ein letztes Mal öffnete er seine schweren Augenlider, als möchte er sich verabschieden. Dann löschte sein irdisches Dasein aus.
Eine unbeschreibliche Atmosphäre war im Zimmer. Am ehesten kann ich sie vergleichen mit der Herzenswärme. Das ganze Zimmer war erfüllt davon. Lange saß ich beim Beat, ohne die Pflegefachfrau zu rufen. Dieser heilige Augenblick war für uns beide ein Geschenk.
Ein tiefes Glücksgefühl überkam mich in dieser Nacht, welches ich so vorher nicht kannte. Beat nahm mich offensichtlich ein Stück weit mit in sein Hineinsterben.
Als seine betagte Frau das sanfte Hineinsterben vernahm, war sie erleichtert. Nach einigen Wochen suchte ich sie in ihrer einfachen Wohnung auf. Vor ihr lag das Kirchengesangbuch. Sie fragte mich:
„Wie kann ich jetzt für meinen Mann beten? Er hat doch jetzt für sein Leben geradezustehen. Sind es die Psalmen, die ihm jetzt weiterhelfen?“
Eine wahre Sterbebegleiterin ist sie also gewesen!
Erst viel später wurde mir bewusst, dass dieser sterbende Beat S. und seine betagte Frau mir damals zeigten, in welche Richtung ich weiter zu suchen hatte.
Frau S. hat mich auf den wohl markantesten Unterschied zu landesüblicher Sterbebegleitung hingewiesen: Ist nämlich in einem Spital der Patient tot, also kein Patient mehr, sondern tot, dann ist es geschafft, die Arbeit ist getan.
Sie ist nicht restlos getan, jedenfalls für mich nicht, wie ich später lernen durfte. Diejenigen, die uns Kompetentes über die Verstorbenen zu sagen haben, lehren, dass, wenn Sterbende diese Welt verlassen, sie aus dem Bereich des eigenen Willens heraus sind und sich nicht mehr selbst helfen können.
Einstweilen war das für mich Theorie. Damals wusste ich nicht, was das für mich als Begleiterin in der Praxis hieß oder heißen konnte. Ich hatte es unterlassen, diesen Mann über längere Zeit in der Stille meines Herzens zu begleiten. Erst viel später merkte ich, dass Verstorbene unser liebendes Beten brauchen und es wohl auch zu meiner Aufgabe gehörte.
Niklaus K., 61
Nach vielen anderen Nachteinsätzen, ein gutes Jahr später, wurde ich wachgerüttelt. Da lag Niklaus mittleren Alters im Sterben. Er war gesprächig, aber unglaublich geschwächt. Eine innere Unruhe plagte ihn. In keiner Stellung war es ihm wohl. Ich schüttelte ihm das Kissen, legte ihm einen kühlen Waschlappen auf die Stirn, öffnete ein wenig das Fenster, genauso, wie wir es im Vorbereitungskurs gelernt wurden; aber sein ganzer Leib blieb ein einziges Feuer. Mit tieftrauriger Stimme sagte mir Niklaus:
„Ich weiß, es gäbe in meinem Leben einiges, bei dem ich mich zu versöhnen hätte, aber jetzt fehlt mir die Kraft dazu.“
Es berührte mich sehr, dass Niklaus mir dieses offene Geständnis machte. Weshalb mir? Doch ich wusste damals nicht, wie ich ihm hätte helfen können. Immer wieder schlief er für zwei Minuten ein, um dann wieder erneut von seiner Unruhe gepackt zu sein. Er streckte mir seine Hand entgegen, als würde er einen Halt suchen. Damals meinte ich, meine Hand wäre ihm Hilfe genug, denn so ähnlich sind wir es gelehrt worden.
„Ich weiß, ich hätte mich zu versöhnen gehabt, aber jetzt fehlt mir die Kraft dazu“, hatte Niklaus aber gesagt.
Das also stand ihm im Weg, dass er die Kraft nicht mehr hatte. Hätte ich nach der Schuld gefragt, hätte er vielleicht zu sprechen gewagt. Mir, einer Unbekannten, hätte er vielleicht seine Schuld herausgesagt. Denn Versöhnung ist schwieriger zwischen den streitenden Parteien, da emotionale Verknüpfungen bestehen. Versöhnung geschieht sehr oft durch die Hilfe eines Dritten, wie wir später im Hineinsterben mit Marthas Vater sehen werden.
Verstrittene Vergangenheit dauert oft bis zum letzten Augenblick, und bis zum letzten Augenblick dauern oft auch die Schuldgefühle, die sich im Verlauf der Jahre angehäuft haben.
Heute weiß ich, dass ich Niklaus tatkräftig hätte helfen sollen, seine Schuld vor den Schöpfer zu tragen. Ich hätte mit ihm wenigstens das „Vaterunser“ beten können; langsam und mit ihm zusammen hätte ich doch erspüren sollen, was zwischen dem Schöpfer und seiner Seele im Wege stand, dass Versöhnung nicht geschehen konnte. Ich habe es nicht getan. Ich habe es unterlassen, weil ich selbst im Glauben viel zu wenig verwurzelt war. Gebete waren für mich damals erst gesprochene Worte, also noch nichts Gelebtes.
Selbstreflexion 1
„Ohne die Herzenswärme geht nichts“
Eines wurde mir klar:
Ich hatte meine Art des Begleitens selbst zu entdecken.
Nirgends habe ich damals in den Büchern gelesen, wie ich das zu tun hatte. Ich las über die verschiedenen Zustände, in denen Sterbende drin sein können – Phasen der Auflehnung und Phasen der Verzweiflung. Aber über die Liebesgeschichte zwischen dem Schöpfer und unserer Seele las ich nichts. Das hatte ich Schritt für Schritt selbst zu entdecken. Das musste erst in mir heranreifen wie ein Apfel, der durch die Wärme der Sonne über lange Zeit heranreift.
Es sind die Sterbenden, die durch viele Nächte hindurch meine Lehrmeister geworden sind. Sie haben mich in die Liebesschule geschickt, ohne dass sie darum gewusst hatten. Sie haben mich wortlos davor gewarnt, den Zeitpunkt meiner Umkehr auch nur einen Tag hinauszuschieben. Jetzt gilt es, richtig zu leben, und jetzt gilt es, verantwortungsvoll das mir anvertraute und geschenkte Leben in die richtige Ausrichtung zu bringen.
Leben und Sterben sind eng miteinander verbunden und verwoben. Nur wenn ich lerne, die Liebe unseres Schöpfers schrittweise aufzunehmen und mich bemühe, sie mehr und mehr zu beantworten, kann ich Ihm einmal in Freude entgegensterben. Exakt dies haben mich die vielen Sterbenden gelehrt, ohne dass sie es wussten.
Denn verweigere ich diese göttliche Liebe und will ich mich von ihr nicht anrühren lassen, verschließe mich also, weil ich alles aus meinem Eigenwillen heraus meine zu wissen und zu können, dann, ja dann kann es sehr wohl im Sterben schwierig werden. Viele Patienten haben mir das vorgelebt.
Ohne die Herzenswärme geht also nichts.
Kann es doch sein, dass unser sterbender Freund oder unsere Nachbarin schulmeisterliche Eltern gehabt und bloß einfältige Sexualität erlebt haben; und es ist jetzt ganz am Schluss, dass sie durch uns das andere erleben: Wir legen ihnen ein feuchtes Tüchlein auf die Stirn und zupfen ihnen das Kopfkissen zurecht. Wir machen ihnen das so, dass es nicht mehr nur um das Tüchlein und das Kissen geht, nicht mehr um Vorhänge zu oder Vorhänge auf, nicht mehr um die Blumen auf dem Tisch und Carmelas Apfelstücke, worüber Sie später hören werden, sondern es ist jetzt liebevoll und zärtlich. Das ist jetzt unsere Mitteilung:
die Herzenswärme und die Zartheit.
Etwas völlig Neues, für diese Schwerkranken womöglich kaum je Gehabtes. Und diese neue Zartheit macht den Sterbenden die Herzenstüre auf!
Sehen Sie, ganz merkwürdig ist das, wie menschliche Zärtlichkeit der göttlichen Hilfe Zutritt verschafft. Es ist eine Vermittlerrolle, die wir da übernehmen, ohne uns dessen bewusst zu sein.
Es ist jetzt anders geworden im Krankenzimmer.
Es ist, wie es ein Leben lang vielleicht nie war für den Sterbenden. Und dafür sind wir da am Bett eines schwerkranken Menschen. Gerade wir Frauen können das.
„Neuwerden“ heißt es in der hl. Schrift; eine Situation also