ist diese Philosophie, weil sie sich nachzuweisen bemüht, daß beinahe alles, was als Natur bezeichnet wird, lediglich Konvention ist; als „natürlich“ im Sinne der ersten Natur gelten de Sade lediglich selbstsüchtige Bestrebungen: „Denn unmöglich kann eine von der Natur angeregte Tätigkeit unrecht sein.“
26 Entweder Unterordnung des Willens unter eine noch wohlwollende Natur oder seine bewußte Kultivation zum Bösen als Ausdruck von Freiheit – das eine widerspricht dem anderen, beides zugleich ist nicht möglich. Am Ende erweist sich, daß de Sade, ohne es zu bemerken, zwei Anthropologien folgt, die er nicht mehr aufeinander abstimmen kann. Damit erweist sich seine Philosophie aber als mindestens so brüchig wie die von ihm – so die Autoren der
Dialektik der Aufklärung – kritisierten Gedanken einer auf Vernunft oder „guter“ Natur basierenden Moral. So sehr eine Theorie des Lasters das Komplement einer umfassenden, auch moralisch anspruchsvollen Theorie der Tugend ist, so wenig läßt sich eine Theorie lasterhaften Lebens widerspruchsfrei konstruieren. Rousseau hingegen war – realistischer als de Sade – in der Lage, die Widersprüchlichkeit des Seelenlebens als Realität und nicht nur als aufzuhebenden Schein wahrzunehmen: „Indem ich so zu den ersten Eindrücken meines Gefühlslebens zurückgehe, finde ich Elemente, die manchmal dem Scheine nach unvereinbar, sich doch so verbunden haben, um gewaltsam eine einheitliche und einfache Wirkung hervorzubringen, und wieder andre finde ich, die, scheinbar die gleichen, durch das Zusammentreffen bestimmter Umstände so verschiedene Verbindungen herbeigeführt haben, daß man nie auf die Vermutung kommen könnte, unter ihnen bestehe ein Zusammenhang.“
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Daran gemessen erweist sich de Sades Kritik an Rousseau als eine theoretische Regression – sein dualistisches und reduktionistisches Weltbild konnte realen Bildungsprozessen ebensowenig gerecht werden wie den zwanghaften, Unfreiheit verlängernden Zügen des Lasters. Auf Rousseaus Basis einer komplexen und in sich widersprüchlichen seelischen Entwicklung hingegen ließ sich eine Selbst- und Nächstenliebe integrierende Gefühlsbildung anstreben, die in der Neubestimmung der Tugenden als zweiter Natur gipfeln sollte.
Wenn eine derartige Theorie ethischer Bildung in Form einer „éducation sentimentale“, wie sie Rousseau und Kant nahelegten, zeitgemäß reformuliert werden soll, kommt es zunächst darauf an, die moralische Bedeutung der Gefühle zu entfalten.