Die Pinguine, die durch Monate die Inseln und Landzungen der Antarktis gemieden haben, tauchen plötzlich, wie von einem Zauberstab berührt, zu Hunderten aus den Tiefen des Ozeans auf und bevölkern, Kopf an Kopf gedrängt, das feste Land. Dort bauen sie die einfachen Gehege; es sind Gruben oder kleine, steinumfasste Mulden. Dorthinein legen sie ihre Eier und brüten die Kleinen aus. Nachdem die junge Brut «flügge» geworden ist und schwimmen gelernt hat, gehen die Scharen wieder zurück ins Meer und verschwinden, niemand weiß wohin, für den Rest des Jahres. Diese Beispiele könnten durch zahlreiche andere vermehrt werden. Immer zeigt es sich, dass beim Auftauchen des Wanderns auch ein anderes Element mit erscheint. Die einzelnen Tiere rotten sich zu größeren oder kleineren Gruppen zusammen. Vögel, Fische, Insekten, alle schwärmen und ziehen und streichen in großen, dicht gedrängten Scharen ihrem Ziel entgegen. Viele Erklärungen dieses tierischen Verhaltens wurden erdacht. Jede einzelne dieser Theorien enthält ein Stück Wahrheit, keine aber wird dem Phänomen selbst in seiner umfassenden Größe gerecht. Sicher spielen Hunger, Fortpflanzungstrieb und Todeserwartung dabei eine Rolle. Warum aber kommt es zu diesen Zusammenrottungen? Was geschieht dem Einzeltier, dass es vielfältige Gemeinsamkeit mit seinen Art- und Stammesgenossen sucht und nur mit ihnen zusammen die Züge und Reisen und Hochzeitsflüge unternimmt? Warum drängen sich Tausende von Pinguinen, Zehntausende von Robben, Millionen von Heringen, Aalen, Sardinen plötzlich zusammen? Die einen ziehen gemeinsam, die anderen lassen sich, in zahlloser Fülle, an bestimmten Plätzen gemeinsam nieder.
Können wir ahnend erfassen, was sich in diesen Augenblicken des Tierlebens vollzieht? Sicherlich kann man versuchen, eine Drüsenfunktion, das plötzliche Erwachen eines Instinktes und manches andere dafür verantwortlich zu machen. Die Drüsen aber ändern ihre Funktion, die Instinkte wachen auf, weil ein Höheres, Stärkeres die ganze Tierart durchsetzt und sie wie verwandelt.
Was geschieht mit einer Gruppe von Vögeln, die im Herbst sozusagen den Wanderstab ergreifen, um nach Süden zu ziehen? Eine plötzlich auftretende Unruhe überkommt sie; die Zusammenrottungen vollziehen sich und das Reisen beginnt. Zugvögel, die in Käfigen gehalten werden, erleben zu der Zeit, da ihre freien Artgenossen zu wandern beginnen, das gleiche Unruhigwerden. Lucanus sagt darüber: «Rastlos flattert und tobt der Gefangene im Käfig umher und zerstößt sich dabei häufig das Gefieder fast bis zur Unkenntlichkeit … Dies beweist untrüglich, dass es nicht äußere Gründe sind, die den Zugvogel auf die Wanderschaft treiben, sondern dass er einem allgewaltigen Triebe folgt, der ihn völlig beherrscht und von ihm nicht willkürlich unterdrückt oder abgeändert werden kann. Der Zugvogel zieht, weil er ziehen muss!»1
Warum aber müssen die Vögel ziehen? Weil alle Tiere, in ähnlicher Art wie der Mensch, von bestimmten Rhythmen des Lebens durchwirkt sind. Es ist unberechtigt, den Wandertrieb der Tiere mit dem Reise- und Forschungsverlangen der Menschen auch nur annähernd zu vergleichen. Dieser fatale Irrtum hat immer neu die wahren Einsichten verhindert. Die Tiere wandern und ziehen so, wie die Menschen schlafen und wachen. Die Vögel, die sich zum Zug nach dem Süden vorbereiten, erleben eine Bewusstseins-Änderung, der sie nachgeben müssen. Es ist ein Abendwerden, ein Einschlaf-Erlebnis, das sie überkommt. Und nun beginnen sie vom Süden zu träumen, und jede Art hat ihren gemeinsamen Traum, schließt sich im Erlebnis dieses Traumes zusammen und findet, Schlafwandlern gleich, ihren Weg in das Land ihrer Träume. Bei ihnen allen tritt eine Linderung des Verhaltens ein. Der gleiche Lucanus erzählt: «Auf der Kurischen Nehrung habe ich oft genug beobachten können, wie Wanderfalken und Sperber in unmittelbarer Nähe von Drosseln, Staren, Finken oder anderen Kleinvögeln dahinzogen, ohne dass sie irgendwelche Raubgelüste zeigten, und dass auch alle diese Kleinvögel die sonst so gefürchteten Räuber gar nicht beachten, sondern unbekümmert um deren Nähe ihre Luftreise fortsetzten, ohne auch nur im Geringsten die Flugrichtung zu ändern.» Das ist nur dadurch zu erklären, dass sie alle, Räuber und Opfer, gemeinsam zu Träumern geworden sind. Ein leichter Schlaf hat sie überkommen, und während der Zeit ihres südlichen Aufenthaltes werden sie aus diesem Schlaf erst erwachen, wenn der frühe Morgen ihrer Rückreise anbricht. Dann beginnen sie, nach ihrer Heimat zurückzustreben; diese jedoch ist Tag und Tagewerk. In der Heimat tritt das Erwachen ein – der Nestbau, die Brutpflege, die Sorge für die Aufzucht. Nachdem diese Arbeit getan ist, beginnt der Abend des Aufbruchs und der Traum des Südens sie wieder zu überkommen.
Hier enthüllt sich der gewaltige Hintergrund, dem alles tierische Wandern unterliegt. Wie wir Menschen im Rhythmus der täglichen Erdumdrehung schlafen und wachen, so durchzieht die Tiere ein ähnlicher, aber jährlicher Rhythmus. Nicht die Erde, sondern das Zusammenspiel von Erde, Sonne und Mond rhythmisiert das Schlafen und Wachen der Tiere. Das Wandern und Ziehen ist ein Einschlaf- und Aufwach-Erlebnis der Gruppenseelen der einzelnen Arten. Die Allgewalt dieses Geschehens ist aus Instinkten, Trieben und Verhaltensweisen gar nicht allein zu erklären. Ein mächtiger Seelenatem durchzieht die einzelnen Völker der Tiere; er hebt sie ausatmend aus ihrem Tagewerk in ein Traumland und führt sie, einatmend, wieder zurück in den Alltag.
Erst beim Anblick dieser die ganze Erde durchflutenden Atemzüge ist auch das Leben der Robben zu ergründen. Diese große, seltsame und mit so vielen Geheimnissen umwobene Tiergruppe untersteht dem Gesetz dieses Rhythmus in einer nun zu betrachtenden speziellen Art.
Der Jahreskreislauf
Das Leben der meisten Robben ist weitgehend durch einen Wechsel zwischen Wandern und Ruhen bestimmt. Dieses Lebenspendel wird noch dadurch in seinen Ausschlägen besonders betont, dass die eine Periode sich vorzüglich im Element des Wassers, die andere aber gänzlich auf dem Trockenen abspielt. Die Dauer der einzelnen Perioden schwankt mit den Arten und ihren Lebensräumen. Manche verbringen die Hälfte der Zeit auf dem Lande, andere nur wenige Wochen.
Die Jungen werden bei allen Robbenarten nur am Lande und niemals im Wasser geboren. Auch die Paarung erfolgt, bald nach der Geburt der Nachkommen, auf dem Trockenen. Und die Robbenjungen, hilflos und ganz der mütterlichen Sorge anheimgegeben, lernen erst nach einiger Zeit, unter der Führung und Anleitung der Mütter, das Meer kennen. In kleinen Tümpeln des Ufers erhalten sie richtigen Schwimmunterricht, bis sie das Element des Wassers beherrschen. Dann geht es zurück in die Weiten des Ozeans, und wenn sie wieder ans Land zurückkehren, sind sie schon kleine Herren und Damen geworden.
Die Entwicklung und Entfaltung der Jungen geht mit großen und schnellen Schritten vor sich. Das Milchgebiss wird bei den Arten, die es besitzen, schon vor oder bald nach der Geburt abgeworfen. Die Gewichtszunahme bei daraufhin untersuchten Seehund-Kindern beträgt etwa drei Pfund (!) täglich. So wachsen die Kleinen erstaunlich schnell heran und in einem Monat nach der Geburt ist schon die Säuglingszeit vorüber.2
Meist wird nur ein einziges Kälblein geboren, und wenn die Mutter, sich selbst vergessend, in den ersten Wochen nach der Geburt für ein oder zwei Tage hinausschwimmt und nicht nach ihrem Kinde sieht und womöglich nicht zurückkehrt, dann verhungert es. Die Kleinen beginnen jämmerlich zu greinen, und richtige Tränen rinnen aus ihren großen dunklen Augen.
Nach der Stillzeit bleiben die Jungen noch für einen weiteren Monat unbehütet am Strande. Die Mütter haben ihr Interesse für die Kleinen verloren und leben im Harem ihrer Männer. Die Kleinen aber wachsen weiter, obwohl sie kaum Nahrung aufnehmen; das Fell ändert seine Farbe, und wenn im aufziehenden Winter die Stürme einsetzen und die kalten Tage beginnen, dann ziehen alle, Alte und Junge, Große und Kleine, hinaus in das Meer. Wohin sie ziehen, ist vielfach nicht bekannt. Sie unternehmen aber weite Wanderungen, denn in Norwegen beringte Seehunde wurden im folgenden Jahr in Südschweden, in Schottland und auch in Island