Fluglose Vögel
Auf den Ufern und Inseln der Arktis gibt es keine Pinguine. Und doch hat bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts eine besondere Art von Vögeln dort gelebt, die den Pinguinen durchaus vergleichbar ist: der Riesenalk. Obwohl einem ganz anderen Zweig des ganzen Vogelgeschlechtes zugehörig, sind sie einer ähnlichen Umbildung unterworfen worden. Auch beim Riesenalk wurde der Flügel zu einer verkümmerten Gliedmaße und die Fähigkeit des Fliegens ging verloren. In der Größe war er den größeren Pinguinarten gleich; er maß etwa 80 cm. Auch er war aufrecht, hatte einen weißen Bauch und einen schwarzen Rücken. Seine nächsten Verwandten sind Tordalk und Trottellumme der nordischen Vogelfelsen. Er bewohnte in früheren Zeiten nicht nur die Inseln der nördlichen Meere, sondern seine Reste aus vorgeschichtlicher Zeit wurden an den Küsten Dänemarks, Irlands und sogar in südlichen Gebieten Nordamerikas gefunden.7 Die letzten lebenden Exemplare wurden noch um 1820 in und um Grönland gesichtet. Seither ist dieser Vogel – der ähnlich zahlreich gewesen sein muss, wie es heute noch der Pinguin ist – von der Erde verschwunden.8 Er war in geschichtlichen Zeiten auf Neufundland, Grönland und Island besonders häufig anzutreffen.
Alle Beobachter erwähnen, dass sie (die Riesenalken) mit hoch erhobenem Kopf, aber eingezogenem Nacken zu schwimmen pflegten und, beunruhigt, stets untertauchten. Auf den Felsen saßen sie gerade aufgerichtet, steiler als Lummen und Tordalken. Sie gingen oder liefen mit kleinen, kurzen Schritten aufrecht einher wie ein Mensch und tauchten bei Gefahr vier bis fünf Meter hinab in die See.9
Auch dieser Riesenalk brütete im Sommer und legte ein einziges Ei; über die Art und Zeit des Brütens bestehen nur Vermutungen. Jedenfalls waren im arktischen Gebiet ähnliche Lebensformen zur Entstehung gekommen, wie wir ihnen heute noch in den Pinguinen begegnen. Beide verloren ihr Vogeltum dadurch, dass sie das Fliegen aufgaben und das Schwimmen dafür erwarben. Riesenalken und Pinguine, wohl stammesgeschichtlich nicht verwandt, unterlagen der gleichen Bestimmung und mussten dem Fliegen entraten. Gibt es auch andere Vögel, die ein ähnliches Schicksal hatten? Wir kennen eine ganze Reihe, von denen einige noch leben, andere schon ausgestorben sind. Allen voran die Familie der Strauße. Ihre Flügel sind verkümmert und tragen so weiche Federn, dass sie zum Fliegen unbrauchbar sind. Dafür aber werden Hals und Beine kräftig entwickelt, und ein richtiger Strauß erreicht oft eine Höhe von über zwei Metern. Ähnliche Gestalt haben die australischen Emus, die südamerikanischen Nandus und die seit vielen hundert Jahren ausgestorbenen Moas aus Neuseeland. Die Letzteren erreichten eine Größe von dreieinhalb bis vier Meter, mit mächtigen Oberschenkeln und gewaltigen Hälsen. Dort lebt jetzt noch ganz vereinzelt und selten der flugunfähige Kiwi, der neuseeländische Schnepfenstrauß.
Alle diese Vögel haben ihr Flugvermögen eingebüßt. Sie haben dafür, mit Ausnahme der Kiwis, mächtige Beine und ellenlange Hälse entwickelt. Es ist, als hätten sie den Verlust der Flügel an diesen Stellen wettgemacht. Man denkt unmittelbar an Goethes Darlegungen in dem Gedicht über die «Metamorphose der Tiere»:
Doch im Innern scheint ein Geist gewaltig zu ringen,
Wie er durchbräche den Kreis, Willkür zu schaffen den Formen
Wie dem Wollen; doch was er beginnt, beginnt er vergebens.
Denn zwar drängt er sich vor, zu diesen Gliedern, zu jenen,
Stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen
Andere Glieder, die Last des Übergewichtes vernichtet
Alles Schöne der Form und alle reine Bewegung.
Von den jungen Straußen und Kasuaren wird erzählt, wie anmutig sie sich noch bewegen. Je älter und größer die Tiere werden, je mehr «die Last des Übergewichtes» von Hals und Beinen hervortritt, umso gröber und plumper wird ihr Verhalten. Die Flügel und der Flug wurden von den Beinen und dem Laufen aufgezehrt. Um der Ausbildung der mächtigen Untergliedmaßen das Gleichgewicht zu halten, schob sich der Hals aus dem Leib heraus; und so entstand die jetzige Form. Diese Laufvögel leben (mit Ausnahme der Kiwis wieder und der in den Regenwäldern Nord-Guineas und Nordost-Australiens lebenden Kasuare) in der weiten Steppe. Sand, Sonne, kurzes Gras und Trockenheit sind ihre Umwelt. Die gewaltigen Madagaskar-Strauße (Aepyornithes) wurden, so meint Portmann, dadurch allmählich vernichtet, dass
die fortschreitende Rodung des lichten, savannenartigen Waldes vieler Teile von Madagaskar die Tierwelt dieser Wälder immer mehr in die sumpfigeren, unzugänglicheren Urwaldgebiete verdrängt habe. Und: Die Riesenstrauße fielen in diesen sumpfigen Waldungen den Krokodilen zum Opfer.10
Nicht nur das; das Lebensgebiet dieser Tiere war die Steppe und nicht der sumpfige Wald; deshalb starben sie dahin.
Bei allen diesen Vögeln überwogen die Kräfte der trockenen Erde. Sie dörrten ihren Leib aus, verfeinerten das Federkleid, schlissen es auf, und der Flieger wurde zum Läufer. (Beim Kiwi ging die Kraft der Flügel in den überlangen, gebogenen Schnabel hinein.) Es ist bezeichnend, dass diese Tiere hauptsächlich auf der südlichen Erdhälfte leben. Sind sie aber nicht die richtigen Gegensätze zu den Pinguinen? Beiden Gruppen wurden die Flügel vom Schicksal gestutzt. Bei den Letzteren aber wurden Hals und Beine nicht ausgestreckt, sondern eingezogen. Jedem Pinguin sitzt der Kopf direkt auf der Brust und die Füße ragen wie kurze, törichte Stummel unter dem Bauch hervor. Hier dörrte nicht die Luft den Leib aus; im Gegenteil: Die Feuchte und die Dunkelheit füllte den Körper so aus, dass Beine und Hals in ihm verschwanden. Diese Gestalt erinnert an Walfisch, Seehund und Delphine. Die Glieder werden zu flossenartigen Anhängseln, weil die Rundung der Leiber, vom Fett geformt, ballonartig aufquillt.
Im Norden sowohl als im Süden, wo Kälte, Dunkelheit und Wasser zu überwältigenden Kräften werden, entstehen Riesenalk und Pinguin als Gegenbild zu Strauß und Kasuar. Ist es uns heute noch möglich, das verborgene Rätsel in dieser Existenz zu erkennen?
Der Jahreskreislauf
In den letzten Jahrzehnten ist das Verhalten großer Pinguin-Kolonien sehr eingehend studiert worden. Dabei ergab sich, dass der Rhythmus des Kommens und Gehens für die einzelnen Arten verschieden ist. So kehren z. B. die von Kearton studierten Eselspinguine auf der Dassen-Insel, nördlich von Kapstadt, zweimal im Jahr ein, im März und im September; und beide Male kommt es zur Eiablage, zur Bebrütung und zum Auskriechen von Jungen. Diese Pinguine legen auch meistens zwei Eier, was im Gegensatz zu den anderen Arten steht, die gewöhnlich nur ein einziges Ei produzieren.
Die neuerdings von einer französischen Forschergruppe11 studierten Kaiserpinguine wählen gerade den antarktischen Winter, die mörderischste Jahreszeit, die es gibt, zur Brutpflege und Aufzucht der Jungen. Man kann hier kaum mehr von einem Instinkt sprechen, welcher der Erhaltung der Art zu dienen scheint. Die Männchen und Weibchen beginnen im April und Mai auf den Eishochflächen der Antarktis zu erscheinen. Die Zeit der völligen Polarnacht, die Periode der schlimmsten Orkane und der eisigsten Kälte wird ohne jegliche Nahrungsaufnahme, in rührender Hingabe an die eben geborenen Kleinsten