Eng verwandt mit den oben genannten Texten der gelehrten Fachprosa steht auch das auf Lateinisch verfasste Traumdeutungsbuch Nota Somnia Danielis. Hier wird ebenfalls die Teilhabe des schwedischen Codex an der griechisch-römischen und mittelalterlichen Tradition der Oneiromantie, der Traumdeutung, offenbar. Die alphabetische Aufzählung der 364 Träume und ihrer Bedeutungen stellt eine Version eines der am meisten verbreiteten mittelalterlichen Traumdeutungsbücher dar, des Somniale DanielisSomniale Danielis, dessen Überlieferung in einer Reihe lateinischer Handschriften sowie Übersetzungen in diverse Volkssprachen für die verbreitete abendländische Rezeption bürgt.Somniale Danielis13 Im Hinblick auf die Zusammensetzung der Handschrift verdient das Buch, das in der altschwedischen Übertragung den Titel Nota Somnia Danielis trägt, in der Forschung auch als Somnia Danielis bekannt, ein besonderes Augenmerk, reicht doch die Tradition der Oneiromantie, der Traumdeutung, über die griechisch-römische Antike bis in die frühen Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens zurück.14 Unter der Nota Somnia Danielis werden 364 Träume alphabetisch erfasst und ausgelegt.15 Einer großen Beliebtheit erfreute sich das soeben erwähnte Traumbuch Somnia Danielis, das in 73 lateinischen Handschriften vorliegt, wovon die älteste auf das 9. Jahrhundert datiert werden kann.16 Die volkssprachige Überlieferung umfasst neben den alt- und mittelenglischen, italienischen und irischen auch mittelhochdeutsche und altwestnordische Versionen. Die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Traumauslegung sollte durch die Attestierung zu einem der bekanntesten alttestamentarischen Propheten, Daniel, bezeugt werden. Hinsichtlich der handschriftlichen Tradition war das Traumbuch Daniels „generally integrated in miscellanies with medical, astrological, astronomical character“,Somniale Danielis17 erschien also neben anderen Texten der Fachprosa. Interessanterweise trifft dies auf eine weitere SammelhandschriftSammelhandschrift zu, nämlich Cod. Ups. C 664 (Uppsala Universitetsbibliotek, 9. Jh.), die neben einer der ältesten lateinischen Versionen der Somniale Danielis sonst medizinische Fachtexte enthält.Somniale Danielis18 Auch in den literarischen Texten selbst wird die Existenz der Traumbücher bescheinigt, so wird im Text der altfranzösischen Chanson de RolandRoland einer der Träume von einem weisen Mann mit Hilfe eines Traumbuches ausgelegt.AudeRoland19
Die Bedeutung der Fachprosa liegt neben ihrem Eigenwert als Teil des literarischen Milieus der Zeit, in der sie entstanden ist oder aber modifiziert und weiter rezipiert wurde, vor allem im Potenzial der Texte, soziokulturelle Hintergründe von Entstehungs- und Rezeptionsmilieus zu beleuchten. Kodikologisch kontextualisiert können die gelehrten Fachprosa-Texte so neue Möglichkeiten zur Interpretation anderer Texte innerhalb der Handschrift liefern und zu einem besseren Verständnis poetischer Werke beitragen.
Der Glaube an die prognostische Kraft der Träume – und somit auch der Gebrauch der Traumbücher – war offensichtlich nicht an einen bestimmten Rezipientenkreis geknüpft. Valerio Cappozzo stellt fest, Somniale DanielisXE "Somniale Danielis „thus gathers some traditional beliefs, previously transmitted orally, that surpass social classes and specific moments in time“20 und Steven Kruger merkt an:
While oral traditions and folk beliefs probably contributed to the alteration and growth of the dreambooks, and while a lively folk interest in dreams and dream divination would certainly have helped fuel the dreambooks’ proliferation, the number of manuscripts testifies to popularity among a literate population.21
Die Inklusion des Traumbuchs Somnia Danielis in die heterogene Handschrift Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4, die im Auftrag von Gustav Algotsson (Sture) in VadstenaVadstena angefertigt wurde, zeugt vom Interesse der schwedischen Aristokratie an der Fachprosa, deren schriftliche Transmission bis ins 9. Jahrhundert nachgewiesen werden kann.
Neben den zuvor beschriebenen Fachprosa-Texten fanden komputistische und laienastrologisch-prognostische Inhalte Eingang in den Codex: Tellurische und meteorologische Phänomene ermöglichen eine Zukunftsdeutung. Zu dieser Gruppe zählen die ebenfalls prognostische Wetterregel, die Vorausberechnung des Ostertermins, meteorologische Phänomene wie Donner und eine Wetterprognostik nach der Art der Bauernregeln, die später in der sog. Bondepraktikan (1664)22 erscheinen.
Wie aus der erfolgten Aufzählung zu erkennen ist, stellt sich der Inhalt der Handschrift als äußerst heterogen heraus, so dass anhand der einzelnen Texte das Rezipientenmilieu nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann. Allerdings stellt Bampi fest, Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4 „was not used in ecclesiastic contexts or within male monastic foundations“,23 denn hier erfolgte die Wissensvermittlung fast ausschließlich mit Hilfe auf Latein verfasster Werke theologischen und religiösen Inhalts. Die generische Heterogenität der Handschrift lässt sich am ehesten mit den privaten Interessen des Besitzers oder Auftraggebers erklären, der sich neben religiösen und erbaulichen Texten auch mit historischen, magischen und profanen Motiven befasste.
Zusätzlich zur eigentlichen Textanalyse im Kapitel 5 kann die Einordnung der Position des altschwedischen Karl Magnus innerhalb dieses Codex zum Gesamtverständnis hinsichtlich seiner Funktion und Interpretation beitragen. Eine mögliche Verbindung zu den weiter oben beschriebenen Textgruppen ist für die Einordnung der Karlsdichtung in einen potenziellen Wissenshintergrund der Rezipienten hilfreich und kann auf diese Weise neue Lesarten generieren.
4.1.3. Nota Somnia Danielis und Karl Magnus
Somniale DanielisZwischen dem Traumdeutungsbuch Somnia Danielis und Karl Magnus existiert eine inhaltliche Verknüpfung. Neben den Visionen, die zur Genese einer eigenen Gattung, der sog. Visionsliteratur beigetragen haben, stellen Träume einen gängigen Topos in der epischen Literatur des Mittelalters dar. Sie haben strukturbildende Funktionen inne und besitzen das Potenzial, psychologische Einsichten und schicksalhafte Wendungen allegorisch zu vermitteln.1 Die allegorische Bedeutung der Träume in der Chanson de RolandRoland wurde schon früh von der Forschung hervorgehobenRoland2 – hier liegt eine mögliche Verbindung zwischen Karl Magnus und dem beliebten mittelalterlichen Traumbuch. Die mantischen Träume Karls des Großen nutzen die Allegorie als Mittel zur Ankündigung zukünftiger Ereignisse und bedürfen einer Auslegung durch den Träumenden selbst oder durch einen Traumdeuter. Wie Karl-Josef Steinmeyer feststellt, sind die Träume Karls ein charakteristisches Beispiel für die Denkweise des mittelalterlichen Rezipienten, die aus dem typologischen Denken hinsichtlich der ihn umgebenden Dinge resultiert und ihren Ursprung in der Bibelexegese hat.3 Hier ist die Geschichte von Karl Magnus und Somniale DanielisSomniale Danielis durch ihre Co-Existenz in der Handschrift Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4 einerseits auf inhaltlicher und andererseits auf rezeptionsästhetischer Ebene verknüpft: Karls mantische Träume und die gegebene Möglichkeit zu deren Exegese durch das Traumbuch bezeugen die mittelalterliche Traumgläubigkeit. Diese erachtet Steinmeyer aufgrund der Vielzahl an Träumen in den chansons de gestechansons de geste und in der frühen epischen Dichtung des europäischen Mittelalters wie auch der handschriftlichen Verbreitung oneiromantischer Schriften als gegeben.4 Diese Traumgläubigkeit und das Weltbild der zeitgenössischen Rezipienten ermöglichen ein anderes Gesamtverständnis des literarischen Werks, einen anderen Zugang, der dem heutigen Leser gänzlich verwehrt bliebe, zöge man das Potenzial der Fachprosa, in diesem Fall der oneiromantischen Schrift, nicht als Folie für die Einordnung der literarischen Texte in den Sinnhorizont ihrer Zeit heran.
Charakteristisch für die altnordischen, d.h. für die altnorwegische, aber ebenso für altschwedische und altdänische Version der Chanson de RolandRoland, erscheint im ersten Traum Karls der Großen vor der Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles nicht Ganelon persönlich, Rolands Stiefvater und Verräter, der die Lanze zerbricht, sondern der Engel Gottes. Das Erscheinen Ganelons in propria persona statt in einer allegorischen Form, z.B. als wildes Tier, ist sowohl