Das Erkenntnisinteresse ist […] in Stilistik und Textlinguistik ganz verschieden, dementsprechend sind es auch die Erschließungsmethoden. Wenn man allerdings innerhalb der Textlinguistik nach den konstituierenden Faktoren eines Textes fragt, die die Einheit eines Textes ermöglichen, so erweist sich auch der jeweils charakteristische Stil als ein solches textprägendes Mittel. Stilbrüche dagegen signalisieren mitunter textliche Verschiedenheiten. (Sowinski 21999: 10)
Die von Sowinski gebrauchte Kategorie ‚konstituierende Faktoren eines Textes‘ steht in inhaltlicher Nähe zu den Kriterien der Textualität. Wie man nun auch zu der oben angesprochenen Frage steht, ob man die Kriterien der Textualität um weitere ergänzen möchte oder nicht, die Einbeziehung des Kriteriums der stilistischen Einheit ist angesichts der Tatsache, dass diese den Text mit konstituiert, eine Notwendigkeit. STILISTISCHE EINHEIT als ein „textprägendes Mittel“ (Sowinski) gehört zum Textbegriff als ein textzentriertes Kriterium notwendigerweise hinzu.
Keinem Zweifel unterliegt es, dass Textoberfläche und -tiefenstruktur die unentbehrlichen zwei Seiten/Ebenen eines jeden Textes sind, und die Analysemöglichkeiten von KohäsionKohäsion und KohärenzKohärenz sind hinlänglich untersucht worden. Dass damit jedoch nicht schon alles Notwendige zur Sprachgestalt gesagt wird, ist möglicherweise noch nicht bewusst genug. Textkonstitutiv ist nicht nur die Existenz von Strukturen, Beziehungen und Bedeutungen. Es genügt nicht, diese zu konstatieren. Man muss vielmehr auch ein übergeordnetes Prinzip der Herstellung von KohäsionKohäsion und KohärenzKohärenz im Blick haben, das in der Einheitlichkeit der Wahl der Mittel besteht − mit dem Ziel, eine einheitliche „Textatmosphäre“ herzustellen und damit zum einen den individuellen Textstil zu kreieren, zum anderen aber auch, dem TextmusterTextmuster einer Textsorte und dessen sprachlich-formulativem Anspruch gerecht zu werden.
Während der erste Gesichtspunkt – Herstellung eines durchgehenden Werk- und Individualstils – hier vernachlässigt werden kann, er ist nicht zwingend bzw. häufig nicht signifikant, muss auf den Textsortenstil genau eingegangen werden. Es sollte bei der Betrachtung von Texten über die textgrammatischen und textsemantischen Fragestellungen hinaus auch darum gehen, dass ein Text sich in seiner Ausformung an seine Funktion, an die Intention, die er verfolgt, anpassen muss und dass er der Situation zu entsprechen hat, in der er als „kommunikative Okkurrenz“, als Element sprachlich-kommunikativen Handelns, verwendet wird (siehe Kap. 5). Alle Erscheinungen, die wir auf der Textoberfläche finden, sind von den Faktoren der Kommunikation bestimmt und an der Konstitution des Textstils beteiligt. Für die Frage nach der Berechtigung einer Textstilistik bedeutet das: Alles, was auf der Textoberfläche umgesetzt wird, folgt Stilprinzipien, die für den gesamten Text gelten. Dies muss in der Analyse berücksichtigt werden. Stil ist also ein Teil der Textbedingungen, weil er sich – dies ist der eine Teil der Begründung – erst im Text entfaltet und weil es ohne ihn – dies ist der andere Teil – ein klar erkennbares Textexemplar einer Textsorte nicht gäbe.
1.6 Neuere Aspekte der Textbetrachtung
Zunehmend hat die Textlinguistik im Blick, dass der Textbegriff vom rein sprachlich bestimmten auf einen multikodalen erweitert werden muss. Texte existieren nie nur sprachlich, immer sind andere Zeichen an ihnen beteiligt, seien es Gestik, Mimik, Stimmführung oder – bei den uns interessierenden schriftlichen Äußerungen – Bilder, Typographie, Papiersorte usw. Da alle diese Zeichen gemeinsam Sinn anbieten, da sie alle auf der Textoberfläche und in der Textumgebung etwas zu verstehen geben und wahrgenommen werden sollen, kann man an ihnen nicht vorbeigehen. So kann man also nicht den einen Kode, den sprachlichen, aus dem Textkomplex herauslösen und an ihm den Sinn des Ganzen ablesen wollen, ein Verfahren, das in stilistischen Textanalysen noch immer vorherrscht. Dass die nicht-sprachlichen Zeichen auch von Bedeutung sind, wird deutlich, wenn man z.B. versucht, sich eine Sammlung von Gedichten im Layout eines Fachbuchs vorzustellen. Man bemerkt sofort die Widersprüchlichkeit der Zeichen und stößt darauf, dass sie etwas bedeuten. Ein anderes Beispiel: Unsere Rezeption wird intensiver und aufschlussreicher sein, wenn wir ein Barockgedicht in der Erstausgabe lesen. Die mögliche axiale Anordnung des Textes, die eingezogenen Verse, die Barockfraktur, in der der Text gedruckt ist, der möglicherweise kostbare Einband des Buches – alles dies trägt Informationen, die am Sinnangebot des Textes teilhaben. Nun wächst der Anteil der visuellen Zeichen in der Kommunikation heute mit der Vielfalt medialer Möglichkeiten, Visuelles zu vermitteln. Diese visuellen Phänomene – Bilder, SchemataSchema, Tabellen, Typographie u.a. – sind keine Randerscheinungen, sondern können zentrale Elemente eines Textes sein. Hier macht sich die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Leistungen der verwendeten Kodes nötig: auf der einen Seite die sprachlichen – digitalen – Zeichen, die arbiträr sind und verallgemeinernden Charakter haben, also begrifflich sind, und auf der anderen Seite Bilder, Farben, Proportionen, – analoge – Zeichen, die nicht begrifflich sind, sondern eher über die direkte Anschauung wirken. Außerdem darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich Lesen als Verstehen von Texten nicht so einfach in visuelle und kognitive Elemente aufspalten lässt (Gross 1994). Sprachtexte werden auch als Bildtexte (vgl. Konkrete Poesie) gelesen: Umrisse, Struktur, Visualität der Lesefläche werden wahrgenommen. Und andererseits können Bilder auch wie Sprachtexte verallgemeinernd gelesen werden, wenn sie so konventionalisiert sind, dass viele Rezipienten gemeinsam in den Bildern denselben Sinn entdecken. Wenn man nun die Phänomene in der Rezeption nicht trennen kann, verbietet sich die Trennung selbstverständlich auch bei der Analyse. Alles ist also als sinntragendes Element zu betrachten und einzubeziehen. Leittheorie für ein Herangehen an Texte bei Beachtung ihrer MULTIKODALITÄTMultikodalität kann die SemiotikSemiotik sein – als eine Wissenschaft, die an allen Zeichen- und Kommunikationsphänomenen gleichermaßen interessiert ist. Einen für eine solche Betrachtung geeigneten Textbegriff, der auf komplexe Zeichengefüge und komplexe Semiosen anwendbar ist, findet man bei Posner (1991), für den jedes Zeichengebilde als Text gilt, das intendiert sowie mit einer Funktion versehen ist und auf Zeichenkonventionen einer Kultur beruht. Jedes Artefakt, d.h. alles vom Menschen unter diesen Bedingungen Hervorgebrachte, wäre dann Text.
Zusätzlich zur Multikodalität ist auch das Phänomen der MULTIMEDIALITÄTMultimedialität zu beachten, wenn es um den Textbegriff geht. Texte, die wir zunächst einmal relativ unproblematisch einer Textsorte zuordnen zu können glauben, wie die oben schon genannten Textsorten Brief1, Eintragung ins Gästebuch, Rezension, Lexikoneintrag oder Alltagsgespräch, begegnen uns auch als elektronische Fassung, unter derselben oder einer ähnlichen Textsortenbezeichnung: z.B. E-Mail, elektronisches Gästebuch, Rezension, Wikipedia-Text, Chat. Die Frage ist, ob wir bei den Verlagerungen aus einem nicht-elektronischen MediumMedium in ein elektronisches von derselben Textsorte reden können, die durch das andere Medium möglicherweise spezifiziert, aber nicht in ihrem Wesen beeinträchtigt ist, oder ob wir es mit neuen Textsorten, mit anderen Bedingungen und Wirkungsmöglichkeiten zu tun haben (siehe Kap. 16).
Die Frage stellt sich natürlich nicht nur und nicht in erster Linie bei den oben genannten Alltagstextsorten. Sie begegnet uns auch bei literarischen Texten2, z.B. bei der Verfilmung von Literatur. Ist die Verfilmung eines Märchens, um bei einer einfachen GattungGattung zu bleiben, ein Gattungswechsel, ein Medienwechsel, ein Kodewechsel oder das alles zusammen? Wie sind hier Abgrenzungen und Festlegungen möglich, wenn das überhaupt der Fall ist? Was ist bei einer solchen Abgrenzung