Diese Annahme wird belegt durch zwei unterschiedliche Aussagenreihen in den paulinischen Briefen, die zumindest in der Substanz nicht anders denn als Traditionen der antiochenischen Gemeinde zu verstehen sind. Die erste Reihe stellt zugleich die älteste christliche Aussage zur Beschneidungsfrage dar.
Die erste Reihe findet sich in 1 Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15:
1 Kor 7,19: $1Kor 7,19ἡ περιτομὴ οὐδέν ἐστιν καὶ ἡ ἀκροβυστία οὐδὲν, ἀλλὰ τήρησις ἐντολῶν θεοῦ
Gal 5,6: $Gal 5,6ἐν γὰρ Χριστῷ Ἰησοῦ οὔτε περιτομή τι ἰσχύει οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ πίστις δι ᾽ ἀγάπης ἐνεργουμένη
Gal 6,15: $Gal 6,15οὔτε γὰρ περιτομή τί ἐστιν οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ καινὴ κτίσις
Diese drei Formeln stellen jeweils in gleichem dreigliedrigem Aufbau und in weitgehend gleicher Sprache (abstrakt-kollektive Redeweise) den Zustand des Beschnittenseins bzw. den Zustand des Unbeschnittenseins als wertlos (1 Kor 7,19),14 als bedeutungslos (Gal 5,6),15 als „nichts“ (Gal 6,15) dar. Eingeleitet mit ἀλλά ist dem jeweils entgegengesetzt das Halten der Gebote Gottes (1 Kor 7,19), der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Gal 5,6), die neue Schöpfung (Gal 6,15). Es ist deutlich, dass diese Formeln in der Ablehnung jeglicher Relevanz des Zustandes der Beschnittenheit bzw. der Unbeschnittenheit eindeutig sind. Heiden müssen nicht darauf hingewiesen werden, dass ihr Zustand des Unbeschnittenseins wertlos ist. Also wenden diese Reihen sich an diejenigen, die diesem Unterscheidungsmerkmal einen Wert beimessen bzw. an diejenigen, die vor der Entscheidung stehen, sich dem Beschneidungsritual zu unterwerfen. Grundsätzlich schließen diese Formeln nicht den Weg der Beschneidung der heidnischen Konvertiten aus, allein kommt der Sache keinerlei Bedeutung mehr zu. Es würde sich gleichsam um einen profanen Akt handeln. Anders als Paulus in der galatischen Krise vertritt diese Reihe eine adiaphoristische Position. Da sie, wie die Nachsätze eindeutig zeigen, argumentativ im Rahmen jüdischen Denkens bleibt und keinesfalls mit der Nivellierung der Beschneidungsfrage die Tora insgesamt zur Diskussion stellt (vgl. nur 1 Kor 7,19: […] sondern das Halten der Gebote Gottes), so sprechen in ihr Judenchristen (und Heidenchristen, die diese Form von Toraobservanz akzeptieren) im Gegenüber zur Synagoge.16 In dieser Reihe werden sehr wahrscheinlich Grundsätze der antiochenischen Mission sichtbar.17
Die zweite Reihe findet sich in 1 Kor 12,13$1Kor 12,13; Gal 3,28$Gal 3,28; Kol 3,11. Hier allerdings kommt die Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittenheit und Unbeschnittenheit in dem Paar „nicht Jude und nicht Grieche“18 zum Ausdruck, und er ist darüber hinaus bereits zugeordnet der Aufhebung des Gegensatzes von Sklave und Freiem (1 Kor 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11$Kol 3,11), von Mann und Frau (Gal 3,28). Schließlich ist diese Aufhebung deutlich einem spezifischen Ort zugewiesen worden, nämlich der Taufe in den Christus hinein (1 Kor 12,13; Gal 3,27). In alledem muss diese Reihe deutlich einem sekundären Interpretationsstadium zugewiesen werden. Diese Tauftheologie ist bei Paulus erst ab der Korintherkorrespondenz nachzuweisen, und es ist problematisch, sie bereits in früheste Zeit zurückzuführen. Allerdings bezeugen diese Tauftraditionen zugleich noch die ältere Formel der Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittensein und Unbeschnittenheit, ja in Kol 3,11 ist περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία neben Ἕλλην καὶ Ἰουδαῖος gleichsam verstärkend zusätzlich genannt.
Paulus ist mithin kaum der Begründer der beschneidungsfreien Mission, wohl aber wird er derjenige, der sie im heidenchristlichen Raum durchsetzt. Bleiben wir aber noch bei dem Paulus vor der galatischen Krise, die ihn zu beißender Polemik gegen jeglichen Versuch, die Beschneidung in den christlichen Gemeinden einzuführen, treibt – bei dem Paulus, der in der antiochenischen Mission mitwirkt. Die hier gültigen Grundsätze bestimmen auch seine eigene Position auf der zweiten Missionsreise. In Korinth reklamiert er den jeweiligen Stand zu einem Adiaphoron: jeder soll in dem Stand seiner Berufung bleiben, sei er beschnitten oder unbeschnitten. Niemand soll versuchen, eine Änderung herbeizuführen. Dies ist die grundsätzliche Sicht, die Paulus in allen seinen Gemeinden bislang anordnet (1 Kor 7,17). Ist es ein rhetorischer oder theoretischer Zusatz, wenn Paulus hinzufügt (1 Kor 7,18): Der als Beschnittener Berufene soll diesen Stand nicht operativ zu verändern suchen, der als Unbeschnittener Berufene soll sich nicht nachträglich beschneiden lassen? Der Satz ist kaum durch spezifisch korinthische Erfahrungen begründet. Eher will es scheinen, als wolle Paulus eben die zwei Möglichkeiten ausschließen, die den Grundsatz, dass der Stand des Beschnittenseins bzw. der Unbeschnittenheit nichts wert sei, ignorieren.19
Dieser Grundsatz scheint nun aber durch die paulinische Praxis selbst in Frage gestellt zu sein. Denn nach Apg 16,1–5$Apg 16,1–5 hat Paulus zu Beginn der zweiten Missionsreise den Christ gewordenen TimotheusTimotheus, der Sohn einer Judenchristin und eines Heiden war, selbst beschnitten. Legt man den Maßstab des Galaterbriefs zugrunde, dann hätte Paulus – um mit seinen eigenen Worten zu sprechen (Gal 5,11) – das Ärgernis des Kreuzes aufgehoben. Daher wird die Notiz der Apg in der Literatur häufig als redaktionell dem lukanischen Anknüpfungsschema angelastet.20 Andererseits hat man erneut die Frage gestellt, ob Paulus den Verzicht auf Bestimmungen der Tora nur gegenüber Heidenchristen erwähnt hat, nicht aber gegenüber Judenchristen.21 Schließlich gibt es Überlegungen, die Beschneidung des Timotheus in die Zeit vor den Apostelkonvent zu verlagern, sodass Paulus hier in einer noch weitaus offeneren Haltung zur Beschneidungsfrage agiert hätte.22 Timotheus ist das Kind einer Mischehe. Das rabbinische Recht hat mit Blick auf Dtn 7,3–4 die Mischehe verboten und sie für ungültig erklärt (Qid 68b; Υεν 45a).23 Die Kinder aus einer MischeheMischehe folgen der jüdischen Mutter und gelten somit als Israeliten (Υεν 78a).24 Die nachträglich erfolgte Beschneidung entspricht demnach jüdischem Recht.25 Hat aber Paulus sich in diesem Fall dem jüdischen Recht unterworfen? Die Begründung, die Lukas in Apg 16,3 gibt – er beschnitt ihn wegen der Juden, die in jener Gegend waren – erscheint aus der missionarischen Perspektive des Lukas einsichtig. Da Paulus in seiner Mission nach Lukas immer an die örtliche Synagoge anknüpft, würde die Mitnahme eines Mitarbeiters, der noch in gewissem Maße jüdisch lebt, aber unbeschnitten ist, Unverständnis und Misstrauen erzeugen. Ein anderes Argument als dieses ist aber auch für Paulus nicht vorstellbar.26 Denn die Beschneidung des Timotheus widerspricht dem Grundsatz, den Paulus wenige Zeit später in Korinth geltend macht, dass Unbeschnittene und Beschnittene, wenn sie Christ geworden sind, in dem jeweiligen Stand bleiben sollen (1 Kor 7,18–19$1Kor 7,18–19). Die Existenz eines „unbeschnittenen Juden“ ist ein Sonderfall, der nicht auszugleichen ist mit der Bestimmung, dass Heidenchristen nicht die Beschneidung, Judenchristen nicht den Epispasmos wählen sollen (1 Kor 7,17–19). Der Charakter einer missionsstrategischen Maßnahme27 aber lässt deutlich werden, dass damit keinesfalls die christliche Taufe relativiert noch die Beschneidung als Forderung an Christen anerkannt ist. Der Stand der Berufung wird durch die Beschneidung auch für Timotheus nicht verändert.28 Nur wer von der scharfen Polemik des Galaterbriefs her argumentiert und sie zur Grundlage der gesamten paulinischen Theologie erklärt, muss die Historizität der Beschneidung des Timotheus in Frage stellen. Wer aber in Rechnung stellt, dass diese Auseinandersetzung und diejenige in Philippi noch vor Paulus liegen29 und dass der Sonderfall des TimotheusTimotheus mit dem Versuch, Heidenchristen nachträglich in den Abrahambund zu überführen, nicht verrechenbar ist, der wird die Historizität der Beschneidung des Timotheus für möglich halten.30
Hat die Beschneidung des Timotheus ein für Paulus abträgliches Nachspiel gehabt? Immerhin scheint der Sachverhalt nicht völlig peripher gewesen zu sein, da noch Lukas Jahrzehnte später Zugang zu einer diesbezüglichen Tradition hat. In Gal 5,11$Gal 5,11 setzt Paulus sich mit einer Aussage auseinander, die ihm scheinbar angehängt wird: er predige noch die Beschneidung. Die rechte Auslegung dieses Verses ist außerordentlich schwierig.31 Gehen wir davon aus, dass die in den galatischen Gemeinden aufgetretenen Gegner des Paulus zusätzlich zum Glauben die Beschneidung