Gleichwohl ist für die Ausbildung von christlichen Gemeinden ein spannungsvolles Verhältnis zum Judentum geradezu konstitutiv. Es impliziert Nähe und Distanz zugleich. Man wird diese Frage auf mehreren Ebenen verfolgen, zugleich um die Gefahren eines simplifizierenden Geschichtsbildes und einer einseitigen Fragestellung wissen müssen. Das Judentum der neutestamentlichen Zeit ist eine ausgesprochen komplexe Größe. Und die Frage nach den Anfängen hat neben den theologischen gleichfalls sozialgeschichtliche, juridische oder auch politische Aspekte zu bedenken.
Ich möchte versuchen, an einem klar begrenzten Aspekt jüdischer Lebenswirklichkeit – der Beschneidung der männlichen Juden – aufzuzeigen, wie und weshalb es zu einem eigenständigen, spezifisch anderen christlichen Weg kam. Ich möchte somit Ihren Blick auf die konkreten Formen gelebter Religion lenken. Parallel hierzu wäre etwa nachzudenken über die Bedeutung der jüdischen Speisegebote, des Sabbatgebotes, der Frömmigkeitsübungen wie Fasten und Almosen. Es sind dies die sog. ‚identity markersidentity markers‘1 jüdischer Existenz im Gegenüber zur heidnischen Welt. Werden sie, wie von einem Teil des entstehenden Christentums, nicht mehr eingehalten, so hebt man das Unterscheidungskriterium auf und dispensiert sich zugleich vom jüdischen Gemeindeverband. Wir wissen, dass vor allem das Heidenchristentum, aber auch gebürtige Juden wie der Apostel Barnabas und Paulus von den Christusgläubigen aus dem heidnischen Raum keine Beschneidung verlangten. Wie kam es zu dieser Entscheidung, was hat diesen Weg begünstigt? Den Stellenwert des Themas mag ein Zitat von M. Hengel präzise anzeigen: „Der Kampf des Paulus gegen die Beschneidung und das Gesetz war […] in den Augen seiner judaistischen Gegner ein ‚Verrat am Judentum.‘“2 Dem religiösen korrespondiert ein politischer Aspekt: Heidenchristen sind ab jetzt von der jüdischen Alltagswelt (Tempelbesuch, Ehe mit einem Juden/einer Jüdin, Anspruch auf jüdische Wohltätigkeit, relative Sonderrechte im römischen Staat) a limine ausgeschossen.
1. Die frühesten christlichen Stellungnahmen zur Beschneidungsfrage
Es kann zunächst eine gewisse Eingrenzung getroffen werden. Die Frage der Beschneidung ist kein Thema der Verkündigung Jesu. Dieser Befund verdient Beachtung, weil Aussagen zu anderen sog. jüdischen ‚identity markersidentity markers‘, etwa das Verhalten am Sabbat, die Fastenpraxis, der Umgang mit Sündern, durchaus auf die Verkündigung Jesu zurückgehen und von der palästinischen Gemeinde in Apophthegmata aufgenommen worden sind. Allerdings ist sogleich zu sagen: die rechte Auslegung des Sabbatgebotes oder der Fastenpraxis stellt zur Zeit Jesu ein innerjüdisches Problem dar, in das Jesus eingreift. Die Beschneidung hingegen ist im palästinischen Judentum nahezu außerhalb jeder Diskussion.1 Dies bedeutet positiv: Wir müssen davon ausgehen, dass Jesus die Beschneidung selbstverständlich voraussetzt, gerade weil er sie nicht thematisiert.2
Die Abgrenzung – sozusagen nach hinten – ist andererseits mit dem ApostelkonventApostelkonvent gegeben, über den Gal 2,1–10$Gal 2,1–10 und Apg 15$Apg 15 berichten. Nach beiden Berichten war das Thema des Konvents allgemein die Heidenmission (Gal 2,2.9; Apg 15,12). Auf dem Konvent allerdings tritt eine Gruppierung – Lk nennt sie „einige von der Partei der Pharisäer, die gläubig geworden waren“ (Apg 15,5); Paulus sagt rückblickend „die falschen Brüder“ (Gal 2,4) – mit der Forderung der Beschneidung der bekehrten Heidenchristen auf (Apg 15,5b).3 Dies bedeutet: die Frage der Beschneidung allein war wohl nicht der direkte Anlass des Apostelkonvents, wurde aber zu einem zentralen Diskussionspunkt durch das Auftreten der „falschen Brüder“.4 Sind die „falschen Brüder“ erst durch das Auftreten des unbeschnittenen Heidenchristen Titus auf das Problem aufmerksam gemacht worden?5 Wohl kaum. Da der Kontakt zwischen der Jerusalemer Gemeinde und der Gemeinde Antiochias, als deren Delegaten Barnabas, Paulus und Titus nach Jerusalem ziehen, eng war, ist vielmehr anzunehmen, dass die „falschen Brüder“ auf dem Konvent bewusst Informationen aus Antiochia in die Diskussion bringen.6 Die präzise Identifizierung der ialschen Brüder fällt nicht leicht.7 Sie stehen in einer Linie mit den Leuten des Jakobus, die bald in Antiochia auftauchen (Gal 2,12), sind aber nicht mit ihnen zu identifizieren. Dies alles besagt nun für unsere Fragestellung: Die Person des Titus (Gal 2,3) und die Erwähnung (weiterer) unbeschnittener Delegaten aus Antiochia (Apg 15,5) zum Konvent sind ein klarer Hinweis, dass hier in Antiochia – einer hellenistischen Großstadt mit einem Anteil von ca. 50000 Juden und zusätzlichen Phoboumenoi (Jos.Bell 7,46) – eine Gemeinde aus unbeschnittenen und beschnittenen Christen existiert. Dies ist freilich nur möglich, wenn die trennenden Faktoren des jüdischen Zeremonialgesetzes missachtet werden. Der sog. Antiochenische Streit Antiochenischer Streit, der nach dem ApostelkonventApostelkonvent stattfand8 und über den Paulus in Gal 2,11–14$Gal 2,11–14 berichtet, zeigt am Beispiel der Speisefragen recht deutlich, dass in AntiochiaAntiochia ehemalige Heiden und Juden, die sich jetzt gemeinsam zu Christus bekennen, Speisegemeinschaft haben. Deutlicher aus der Perspektive des Zeremonialgesetzes gesagt: Reine und unreine Menschen essen Speisen, die zu verzehren einem Juden untersagt sind.9 Nicht nur in der Frage der Beschneidung, ebenso in Speisefragen wird die bislang verbindliche Vorgabe der jüdischen Tora ignoriert.
Was ist in Antiochia dadurch eigentlich geschehen? Die Beschneidung der männlichen Juden war im babylonischen Exil zu einem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal von der umgebenden babylonischen Bevölkerung geworden, unter der die Beschneidung nicht üblich war. Die Beschneidung war gleichsam das äußerliche Zeichen der Zugehörigkeit zum Gott Israels. Die Priesterschrift hat diesem Brauch eine heilsgeschichtliche Verankerung gegeben, war doch nach Gen 17,11 die Beschneidung das „Zeichen des Bundes“. Hieran schließt sich der im Judentum gebräuchlich gewordene Ausdruck „Beschneidungsbund“ (berit mila) an. Es handelt sich also um mehr als nur um ein Abgrenzungszeichen in fremder Umwelt. Die Beschneidung erfuhr im Verlauf des Frühjudentums eine enorme theologische Aufwertung. Versuche, sie zurückzudrängen – so etwa durch die hellenistischen Reformer der Makkabäerzeit (1 Makk 1,15) oder aber das Verbot der Beschneidung durch den römischen Kaiser Hadrian10 – bewirkten letztlich eher das Gegenteil. Dass männliche Kinder einer jüdischen Mutter am achten Tag beschnitten werden, war – auch wenn positive Zeugnisse rar sind – wohl selbstverständliche Praxis in der Zeit des zweiten Tempels. Wenn männliche Heiden den Zugang zum Gott Jahwe und zum Volk Israel suchten, so haben sie als Proselyten u.a. die Bescheidung zu übernehmen. Und genau hier liegt der Punkt, wo die christliche Gemeinde in Antiochia sich abweichend verhalten hat. Dass Kinder aus jüdischen Familien, die Christen geworden waren, weiterhin mehrheitlich beschnitten wurden, ist wahrscheinlich. Allein die Heidenchristen, wie das Beispiel des Titus zeigt, haben diesem Brauch nicht mehr entsprochen. Ihr Zugang zur Heilsgemeinde verlief – drastisch gesprochen – nicht mehr über den Umweg einer vorgängigen Konversion zum Judentum. Ohne Beschneidung erfüllten sie nicht die an einen Proselyten gestellten Bedingungen. So aber befanden sich Beschnittene und Unbeschnittene in einer Heilsgemeinde, die nun nicht mehr durch die traditionellen „identity markers“ bestimmt war.
Wir besitzen keine direkten literarischen Zeugnisse aus der antiochenischen Gemeinde. Wenige wichtige Hinweise bietet wiederum die Apg. Hiernach sind die christlichen Hellenisten der Jerusalemer Urgemeinde nach der Verfolgung des Stephanus nach Phönizien, Zypern und AntiochiaAntiochia gezogen (11,19). Ein Teil dieser Hellenisten nimmt in Antiochia Predigttätigkeit gegenüber den Heiden auf (11,20). Der Jerusalemer Judenchrist BarnabasBarnabas kommt nach Antiochia (11,22). Er ist verantwortlich für die Übersiedlung des Paulus aus Tarsus, wohin er nach der Bekehrung zurückgegangen war, nach Antiochia (11,26). Beide bleiben ein Jahr (11,26) in Antiochia und werden sodann (13,1) von der Gemeinde förmlich zu einer Missionsreise ausgesandt (13–14), die sie bis in die Provinzen Pamphylien, Pisidien und Lykaonien führt. Aus dem Bericht der Apg, der in den Grundzügen historisch korrekt sein dürfte,11 wird deutlich, dass die antiochenische Gemeinde der eigentliche geistige Nährboden für die paulinische Theologie gewesen sein dürfte. Wenn die Paulusbriefe Formeln, Traditionsgut wiedergeben, dann wird unter den Texten Etliches mit gutem Grund als Erbe der antiochenischen Zeit zu verstehen sein.