Der Aufbau des Liedes, seine charakteristische Perspektive und die damit verbundene geradezu dialektische Frage-Antwort-Relation der drei Strophen untereinander sind verdeutlicht worden. Die Passage erreicht durch diese überlegte Gestaltung und den konsequenten Einsatz einer unmittelbar aus dem Bühnengeschehen erwachsenden Motivik und Begrifflichkeit eine formale Geschlossenheit, die ihrer Positionierung innerhalb des Dramas entspricht: Zwar forciert das Lied den Fortgang der Handlung und weitet sich selbst zur dialogischen Szene. Nichtsdestoweniger füllt es eine Handlungspause, in deren klar konturiertem Rahmen die umfassende Reflexion zu stehen kommt.
Die Szenerie des „Schlafliedes“ korrespondiert mit Blick auf die Gesprächssituation mit der Parodos: Wieder stehen sich Neoptolemos und seine Mannschaft gegenüber, wieder geht es in dieser vertraulichen Unterredung um das weitere Vorgehen (vgl. die ratsuchende Haltung der Choreuten in der Parodos), wobei sich das Verhältnis jedoch verschoben hat. Diesmal ist es nicht Neoptolemos, der den Choreuten Andeutungen zum weiteren Vorgehen macht, sondern der Chor, der seinem Herrn ein gewisses Verhalten vorschlägt – situationsbedingt sehr klausuliert und ambivalent.
Die Präsenz Philoktets auf der Bühne sorgt für einen grandiosen Effekt und inszeniert die Doppelstruktur der Intrigenhandlung plastisch: Während die drastische und effektvolle Handlung um Philoktet selbst zu einem Ruhepunkt gekommen ist, nimmt das Lied die unterschwellig virulente Intrigensituation forciert in den Blick. Damit ist die Intensität der vorangegangenen Szene umgeleitet: Nicht mehr die drastische Bühnenpräsenz des Protagonisten, sondern die spezifische Situation, in der sich Neoptolemos befindet, wird so als Leitthema der sich anschließenden Szene etabliert.
Die Situation der Parodos ist auch mit Blick auf die Anwesenheit des Protagonisten wiederaufgenommen, geradezu transferiert und effektvoll auf die Spitze getrieben: War dort das Nahen Philoktets und damit seine gefühlte Präsenz die Grundlage der bald angstvollen, bald neugierigen Stimmung, so befindet sich an unserer Stelle Philoktet zwar leibhaftig auf der Bühne, ist Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Chor und Akteur, nimmt aber nicht am Gespräch teil. Die Anzeichen seines Aufwachens veranlassen Neoptolemos, das Gespräch zu beenden (v. 865f.), so wie die nahenden Schritte (v. 201) und das deutliche Rufen Philoktets (v. 205f., 218) die Unterredung zwischen den Schiffsleuten und ihrem Herrn zu einem Ende führten.
Indem das Lied dabei zwischen der Beschreibung des schlafenden Philoktet und der sich daraus für Neoptolemos ergebenden Konsequenzen pendelt, verschiebt es den Fokus der Darstellung schrittweise auf Neoptolemos; dessen Handeln wird den weiteren Fortgang der Geschehnisse maßgeblich bestimmen. Machen wir uns daher klar: Das Lied blendet nach dem Höchstmaß an äußerer Drastik die virulente Intrigensituation ein und schafft damit den Übergang zur Konfrontation des Protagonisten mit der eigentlichen Realität. Es bereitet in seiner Umleitung der Drastik und der Problematisierung des Neoptolemos die folgende Szene vor: Wenn Neoptolemos im Anschluss (v. 895ff.) an der Situation scheitert und seinen Gewissenskonflikt offenlegt, so nehmen seine Äußerungen die Begrifflichkeiten der Gegenstrophe (im Besonderen fassbar bei ἄπορον und πάθος) bewusst wieder auf. Deutlich hat sich so die Einschätzung des Chors realisiert, die in der Gegenstrophe antizipierte Situation ist eingetreten. Das Lied hat sich so aus der unmittelbaren Bezugnahme auf die konkrete Situation des Protagonisten zu einer hintersinnigen Ausleuchtung der dramatischen Realität gewandelt. Dass dabei dem impliziten Rat des Chors, Philoktet zu verlassen, die Andeutung größter Schwierigkeiten gegenübergestellt wird, erweist sich im Fortgang der Handlung als konkrete Zukunftsaussicht auf den weiteren Verlauf der Handlung. Die chorische Passage kommt so an einem – scheinbaren – Ruhepunkt der Handlung zu stehen, greift die eingetretene Stimmung auf und moduliert sie in geschickt kontrastierender Weise zu einer brisanten Auseinandersetzung mit der Handlung kurz vor ihrem Wendepunkt.
Die Form des Liedes spielt dabei meisterhaft mit der Erwartungshaltung des Publikums. Begann die Passage mit ihrer personifizierenden Ausdeutung als ein aus der Situation des Protagonisten motivierter Invokationshymnos, so markiert der Wechsel des Adressaten in Vers 833 das unvermittelte Eintreten in einen Dialog mit dem auf der Bühne verbliebenen Akteur. Aus dem Schlaflied wird so „ein Lied der leisen, aber umso stärkeren Verführung zum Verrat“,13 aus dem rein chorischen, stasimon-ähnlichen Gesang zur Szenentrennung wird ein Austausch zwischen Chor und Akteur, eine Übergangsszene im besten Sinne. Selbst wenn Neoptolemosʼ Anteil an der Unterredung gering ist, evozieren doch die gehäuften Vokative (τέκνον v. 833, 843, 845, 855; παῖ v. 863/4) mitsamt den prominenten Imperativen (ὅρα v. 833, 862; πέμπε v. 846; ἐξιδοῦ v. 851; βλέπ(ε) v. 862) den Charakter eines lebhaften Diskussionsbeitrags von Seiten des Chors, der geradezu auf Antwort bzw. Reaktion ausgerichtet ist.
Fassen wir zusammen: Sophokles nutzt die im Verlauf der Handlung eingetretene Pause durch die Einschaltung einer chorischen Partie zur Umleitung der Drastik und der Wendung des Fokus. Die sich anschließende Peripetie ist damit vorbereitet; anders gesagt: Die Zuschauer sind sich der für Neoptolemos hochproblematischen Situation erneut bewusst und können auf der Folie der im Lied implizit gegebenen Ratschläge die konfliktreiche folgende Szene bereits antizipieren. Das Gespräch zwischen Neoptolemos und dem Protagonisten in den Versen 867ff. hat so als (erster) Wendepunkt innerhalb der Handlung ein chorisches Präludium erhalten, das zum einen die vorangegangene Szene beschließt, dabei allerdings selbst bewusst Szene des Dramas, d.h. Dialog und Austausch zwischen Beteiligten, sein will. Anders gesprochen: Sophokles lässt an dieser Stelle der Handlung keine wirkliche Ruhe aufkommen. Statt in einem reinen Invokationshymnos an den Schlaf die unmittelbare Drastik der Anfallsszene zu lindern und damit dem dramatischen Schwung einen Kontrapunkt entgegenzusetzen, heizt gerade die chorische Partie die dramatische Brisanz weiter an. Den Effekt des „lyric interlude“14 verstärken dabei die konkrete Bühnen- und Sprechsituation, das bewusste, die Erwartungen des Publikums unterlaufende Spiel mit festen Formen chorischer Beteiligung (Invokationshymnos, Stasimon, lyrischer Austausch zwischen Akteur und Chor) und die subtile sprachlich-motivische Komposition, die der Ambivalenz, Uneindeutigkeit und „Chiffrierung“15 der Sprache eine besonders subversive Wirkung verleiht.
Kommos Philoktet-Chor (v. 1081–1217)
Mit dem Wechselgesang v. 1081–1217 kommen wir zur letzten umfangreichen Chorpartie der Tragödie. Bevor die Gesprächssituation, die formale Anlage der Passage, ihre Motivik und Thematik sowie die dramaturgischen Implikationen erläutert werden, soll ein kurzer Überblick die Einordnung des Kommos in den Handlungsablauf ermöglichen.
Nach dem Aufwachen des Protagonisten hatte Neoptolemos die Wahrheit nicht mehr zurückhalten können und Philoktet mit den Gegebenheiten konfrontiert: Es sei notwendig (δεῖ v. 915, πολλὴ κρατεῖ ἀνάγκη v. 921f.), gemeinsam nach Troia zu fahren und dort die Stadt einzunehmen. Philoktet reagiert erschüttert; in einem ersten Monolog (v. 927–962) konfrontiert er seinen Gesprächspartner mit schwerwiegenden Vorwürfen: Er, ein Schutzbedürftiger (προστρόπαιος, ἱκέτης v. 930) sei getäuscht, geradezu hinters Licht geführt worden (besonders eindrücklich die Perfektformen ἠπάτηκας v. 929 und ἠπάτημαι v. 949). Wenigstens den Bogen solle man ihm zurückgeben, denn mitsamt diesem Utensil habe man ihm das Leben selbst geraubt (v. 931ff.). Dementsprechend