Der komische Held hingegen vertritt eine altmodische Weltsicht, die gegen die honnêteté verstößt und ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter degradiert. Er positioniert sich diametral zur molièreschen Ethik, zieht er doch ein autokratisches, egomanisches Verhalten dem sozialen vor. Im Grunde scheitert er, weil sich sein imaginiertes Wertesystem zwar auf die Handlungswelt projizieren lässt, diese aber nicht grundlegend verändert. In den Ballettkomödien zählen zu diesen peripheren Gesellschaftsgruppen neben den komischen Helden Vertreter des Schwertadels und der altfeudalen Aristokratie, Bürger, Preziöse, Künstler, Ärzte, Astrologen, Juristen, Philosophen, Parasiten, Pedanten und Fremde. Die weiter gespannte déraison umfasst alle Vertreter, die sich nicht zur Elitegesellschaft von la cour et la ville zählen oder ihr kritisch gesinnt sind. Sie alle wirken lächerlich im Kontrast zu den Vertretern der raison.
Ferner spiegelt die gewählte Opposition den Zeitgeist der klassischen Epoche wider, welche im Gegensatz zur Renaissance eine strenge Grenzziehung zwischen Vernunft und Unvernunft prägt: „Une ligne de partage est tracée qui va bientôt rendre impossible l’expérience si familière à la Renaissance d’une Raison déraisonnable, d’une raisonnable Déraison.“9 Die Nähe dieser Sujetschicht zum zeitgenössischen Weltbild lässt es angemessen erscheinen, die Weltanschauungen auf die mores der Epoche zu beziehen. Von dieser Warte aus gesehen erhält die raison das Attribut ‚moralisch‘, weil sich ihre Vertreter an die gängige Moral der sozialen Elite halten.10 Im Umkehrschluss handeln die Opponenten unmoralisch, also nicht so, wie es gängige Sitte und Moral fordern. Matzat sieht einerseits – aufgrund der moralischen Dimension dieser Opposition – eine Kongruenz mit der dramatischen Rezeptionsperspektive, weil sie die Zuschauer veranlasst, durch Illusion und Identifikation das dargestellte Geschehen ernst zu nehmen, und andererseits – aufgrund der sozialen Dimension – eine Kongruenz mit der lebensweltlichen Perspektive, da sie die Zuschauer veranlasst, einen lebensweltlichen Bezug herzustellen, woraus letztlich das sozialkritische Moment der Ballettkomödien generiert wird.11
2.2.3 Ruse und bêtise
Es gibt auch Handlungsschemata, die außerhalb gesellschaftlicher Normen stehen und daher zur textinternen Sujetschicht gezählt werden. Sie treten auf, wenn beide Parteien unvernünftig handeln und sich jenseits der Wertmaßstäbe von la cour et la ville befinden. Im Gegensatz zur Hauptsujetschicht ist eine gewisse Gleichwertigkeit zwischen den Kontrahenten auszumachen, denn beide besitzen aufgrund ihrer Flegelhaftigkeit, Kurzsichtigkeit und Einfältigkeit das Attribut ‚unvernünftig‘ und sind innerhalb der Gruppe der déraison zu situieren. Die farceske1 Opposition zwischen ruse und bêtise2 stellt eine unmoralische Infragestellung der betroffenen Normen dar; sie enthält keine moralische Legitimation, die einer Partei recht gibt. Unmoralisch ist sie deshalb, weil sich beide Parteien entgegen der gängigen Sitten und Moral verhalten. Dennoch bewegt sich dieser Agon zwischen Schelm und Narr auch immer auf der Achse von raison und déraison, die ein gewisses Normensubstrat liefert, das nie ganz ausgeblendet werden kann. Diese Szenen zeichnen sich über ihre Sujetsimilarität zur Hauptsujetschicht aus, indem sie zumeist den thematischen Kern der Komödie in ein Milieu der Unvernunft versetzen und in einem parodistischen Wechselspiel von ruse und bêtise entfalten. Der Schelm versucht durch seine List, die Norm mit der Anti-Norm zu verbinden, was ihm nur deshalb gelingt, weil der Unsinn des Narren, der an der Norm festhält, der komischen Normaufhebung selbst zum Opfer fällt.3 Dem Begriff der ruse entspricht der listige Angreifer, dem der bêtise die angegriffene Autoritätsperson. Besonders deutlich wird diese zweite Sujetschicht im Wettstreit der Dienerfiguren untereinander wahrgenommen. Hierbei wird die Nichtzugehörigkeit zu den honnêtes gens zum Maßstab für die moralische Dimension, denn sie können nicht mit den gleichen moralischen Maßstäben wie ihre Herren gemessen werden. Sie repräsentieren häufig eine hypertrophe Komisierung und Pluralisierung des Rollenspiels.
Zur textinternen Sujetschicht sind nicht nur die unteren sozialen Schichten wie Diener, Zigeuner, Spieler, Fremdlinge, Schäfer und Sklaven zu zählen, sondern auch ehemalige Räsoneure, die im Kontakt mit den Autoritäten eine komische Läuterung erfuhren und sich in ihrer neuen Gesinnung ebenfalls dem unvernünftigen Treiben verschreiben. Diese Sujetschicht ist durch Wortgefechte, Quiproquo, Pantomimen, Spiel im Spiel, Karneval, Musik- und Tanzdarstellungen strukturiert, die das Bühnengeschehen im dynamischen Spiel über den Code der theatralischen Kommunikationsebene kommuniziert. Der Schauspieler spielt sich in der Improvisation des Spiels häufig aus seiner Rolle und stellt sein berufliches Können unter Beweis. Die textinterne Sujetschicht sorgt für einen hohen Unterhaltungswert, weil sie dem Zuschauer das Spiel als solches zu erkennen gibt. Sie forciert die theatralische Perspektive und aktualisiert die Theatersituation.
Gemäß dieser Klassifikation gilt es zwischen den beiden sich überlagernden Sujetschichten zu differenzieren, welche die Komödienhandlung bereits äußerst komplex erscheinen lassen. Der satirische Gestus der Ballettkomödie entspringt der moralisch besetzten Opposition von raison und déraison. Das dramatische Substrat der déraison wird in der theatralischen Darstellung vom unmoralischen Gegensatzkonstrukt ruse – bêtise bestimmt und generiert auf der textinternen Sujetschicht einen farcesken Agon. Während die textexterne Sujetschicht dazu beiträgt, die moralische Dimension der Handlungswelt zu erfahren, lädt die betonte Indirektheit zum kulturellen Kontext der textinternen Sujetschicht den Zuschauer dazu ein, die Leichtigkeit des Spiels zu genießen. Demnach hängt die Bedeutsamkeit des Konfliktes gemeinhin von der Zuschauerhaltung gegenüber dem repräsentierten Geschehen ab.4
2.2.4 Réalité und fiction
Die zweite textinterne Sujetschicht ist als Erweiterung zur déraison zu fassen und subsumiert die Komponenten réalité – fiction. Zur Sujetschicht der folie sind Betroffene zu zählen, die im Vergleich zur Sujetschicht der déraison eine gesteigerte Konventionendivergenz und einen gesteigerten Verlust des Realitätssinns aufweisen. Die Übergänge zwischen déraison und folie sind fließend, denn: „[L]a folie commence là où se trouble et s’obscurcit le rapport de l’homme à la vérité […].“1 Die folie-Sujetschicht nähert sich am stärksten von allen Sujetschichten der Protosujetschicht an und tritt nur in den Intermedien auf. Der komische Held rückt mithin ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein interner Konflikt zwischen Sein und Sein-Wollen wird in diesen Intermezzi amoralisch exteriorisiert, seine Schimären zur Theaterrealität erhoben, sodass im Zwischenspiel kein Realitätsbezug zur Sujetrealität der Komödie und somit auch zum lebensweltlichen Kontext mehr hergestellt werden kann. Das Brisante daran ist, dass das Interludium aber als solches angelegt ist, also eine an die Komödienstruktur gebundene Sujetstruktur hat.
Das häufig von den Nebenfiguren inszenierte Intrigenspiel versteht der komische Held als Bestätigung seiner idée fixe, sodass er innerhalb dieser Enthebung Zuspruch in seiner Handlungsmotivation erfährt. Die Sujetrealität der Handlungswelt der Komödie tritt in Opposition zur Sujetrealität des Interludiums, was dazu führt, dass das Intermedium als Metafiktion vom Zuschauer wahrgenommen wird. Diese Enthebung epistemologischer Gesetze in der Metafiktion der Fiktion impliziert eine Loslösung von