Machtästhetik in Molières Ballettkomödien. Stefan Wasserbäch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Wasserbäch
Издательство: Bookwire
Серия: Biblio 17
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300168
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ausgeschlossen ist und das Handeln der Liebenden nicht grundsätzlich deren Moralität infrage stellt.13 Dies wird in den Komödien damit begründet, dass die wahre Liebe durch eine freie Willensentscheidung evoziert wird, die von Geliebtem und Geliebter gefällt wird. Dieses Liebesverständnis zeigt die Vorstellung des mondänen Milieus, das sich von einer antiquierten Liebes- und Ehenorm distanziert, wie Madame de Villedieu diese kritisch in ihrem Schäferroman Carmante hinterfragt:

      Qu’ai-je affaire de sçavoir comme les anciens faisoient l’amour, quand je veux le faire dans ce siecle ici? Et dequoi me guerit la citation de cinq ou six autheurs qui me sont inconnus, quand il s’agit d’une affaire dont mon cœur seul doit decider?14

      Molière verschreibt sich dem Liebeskonzept der bukolisch-galanten Literatur seines Jahrhunderts, in welcher der voluntative Charakter der Liebe immer wieder betont, die freie Liebe gar als Tugend gefeiert wird.15 Sein Theater reflektiert eine progressive Ideologie der Zeit, in der die freie Entscheidung zur Liebesheirat eher als ein „commitment to collective goals“16 Gehör findet, als im Sinne einer egoistischen Selbsterfüllung zu bewerten ist. In diesem Sinne reüssieren die anderen Figuren, weil sie das Machtverhältnis vorübergehend invertieren und den komischen Helden in ihre Abhängigkeit bringen, ihn unterwerfen oder ihn aus ihrem Leben verbannen. Dieses Unterfangen lässt die Lustspiele unterschiedlich ausgehen, da einerseits beide Parteien verlieren können, wie in George Dandin, oder andererseits die List nicht aufgelöst wird. Diese offene Form impliziert, dass der Kampf nach dem Komödienende weitergehen müsste. Demgemäß kann nur ein Teilerfolg für die Untergebenen verbucht werden, wie in L’Amour médecin.

      In der Abstraktheit der jeweiligen idée fixe steckt also das Sujetpotenzial, das sich als polyphones manifestiert; das bedeutet, dass das zentrale Komödienthema die fixe Idee des komischen Helden ist, dem weitere textspezifische Themen untergeordnet sind. Für die Bemessung der Sujethaftigkeit der einzelnen Komödien ist Nachstehendes zu beachten: Da der intersubjektive Konflikt der Dramenfiguren den innerpsychischen Konflikt des komischen Helden – der das Weltmodell nicht transformiert – exteriorisiert, ist das Handlungsresultat des komischen Helden auf den Sujethaftigkeitsgrad des Ereignisses beschränkt und ein Metaereignis kann nur von den anderen Dramenfiguren erreicht werden. Wenn diese Figuren durch Tugenden wie Mut und Tatkraft ohne eigennützige Listigkeiten oder arbiträre Machtausübung den obstacle überwinden, können sie das Weltbild positiv modifizieren und sich selbst zu wahrhaften Helden machen. Zudem reüssieren sie mit einer metafiktionalen ‚Als-ob‘-Weltbildtransformation nach den Wünschen ihrer Opponenten weniger heldenhaft, wobei in diesem Zusammenhang von einem Pseudo-Metaereignis zu sprechen ist.

      Aus dem Gesagten folgt, dass der Hauptsujetschicht eine Protosujetschicht vorangeht, die einen Sachverhalt vertritt, der sich vor der eigentlichen Komödiengeschichte ereignet; zu Letzterer ist nur das Ausleben der idée fixe und die sich daraus ergebende Intrige zu zählen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird daher die den inneren Agon konstituierende Protosujetschicht mit der eingeführten Opposition bienséancemalséance erfasst. Gemäß Alphonse Paulys Definition „la bienseance est la raison apparente“17 kann die bienséance die raison sichtbar machen. Mit anderen Worten ausgedrückt: Der innere Agon kann nach außen getragen werden und die Hauptsujetschicht als Opposition zwischen raisondéraison bestimmt werden. Diese tiefenpsychologische18 Lesart hat zur Folge, dass innerer und äußerer Agon miteinander übereinstimmen und eine Koinzidenz zwischen Signifikat und Signifikant im Handeln des komischen Helden ausfindig zu machen ist. Diese uneingeschränkte Kongruenz von Innen und Außen entspricht nicht den klassischen Umgangsformen, die im Zeichen einer Intransparenz der Zeichen stehen, einer Dissimulation der Handlungsabsicht, sodass in Molières Ballettkomödien in der agonalen Struktur das gesellschaftliche Stigma des Außenseiters erfahrbar gemacht wird.

      Die Sujetstruktur in Molières Dramentexten ist schließlich von einer prototypischen Folie bestimmt, welche die textinternen Normen in ihrer von der zeitgenössischen Norm abweichenden Gesinnung erklärt und mal direkter, mal indirekter zum Vorschein kommen kann. Die Protosujetschicht manifestiert sich in der Komödiengeschichte in der sich auf den kulturell-zeitgenössischen Kontext beziehenden Hauptsujetschicht raison – déraison, die aufgrund ihrer lebensweltlichen Kontextsensitivität auch als textextern zu bezeichnen ist. Auf der Hauptsujetschicht basiert die textinterne Nebensujetschicht, die innerhalb der déraison anzusiedeln ist und durch das Oppositionspaar ruse – bêtise bestimmt wird. Für die ballettkomödientypische Intermedienstruktur ergibt sich eine weitere textinterne Sujetschicht, die innerhalb der folie stattfindet. Diese ist als Erweiterung der Ebene raison – déraison zu begreifen und fasst die Oppositionspaare réalité – fiction zusammen.

      2.2.2 Raison und déraison

      An der Auseinandersetzung zwischen dem komischen Helden und den anderen Figuren offenbaren sich die unterschiedlichen moralischen und sozialen Weltanschauungen innerhalb der Handlungswelt, die auf die Opposition von raison und déraison zurückzuführen sind. Molière definiert in Le Misanthrope sein Verständnis einer vollkommenen Vernunft, die sich durch eine aurea mediocritas auszeichnet, durch eine kompromissbereite Mäßigung des Subjekts, das, im Sinne der gesellschaftlichen Ausrichtung des Begriffs, jegliche Extreme meiden sollte. So sagt hier Philinte: „La parfaite Raison fuit toute extrémité, / Et veut que l’on soit sage avec sobriété.“ (LM, 653)

      Die raison ist einer der höchsten Werte der französischen Gesellschaft der Klassik, Gradmesser und Garant sozialen Anstandes und respektablen Geschmacks. Der positiv besetzte Wert orientiert sich an den Wertvorstellungen von la cour et la ville, also am Wertesystem der führenden Gesellschaftsschicht, den honnêtes gens:

      Die Sittenvorschrift für den honnête homme schrieb vor, sich den bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Mächten zu unterwerfen; im Bestehenden und Gefügten seinen richtigen Platz zu erkennen, seine Haltung mit diesem Platz in volle Übereinstimmung zu bringen ist das ethisch-ästhetische Ideal, das sich gerade damals bildet […].1

      Dieses ethisch-ästhetische Ideal korreliert mit der bienséance, der Sittlichkeit und Weltgewandtheit, sodass der Begriff der raison den vernünftigen Figuren aufgrund ihres gesellschaftsangepassten Verhaltens in der Komödie zugeschrieben werden muss. Dieser vernunftbetonten Seite lassen sich die Räsoneure zuordnen, die zumeist Figuren in den Handlungswelten sind und häufig in direkter Beziehung zum komischen Helden stehen. Zu ihnen zählen beispielsweise Cléante in Le Bourgeois gentilhomme und Béralde in Le Malade imaginaire.2 Sie können zwischen der gelegentlichen Partizipation an der Intrige um den Querdenker und der Rolle eines externen Kommentators oszillieren,3 wie Cléante Hauptbestandteil des Konflikts sein oder wie Béralde von außen das Treiben beurteilen. Im Allgemeinen repräsentieren die Räsoneure die gültigen Zivilisationsregeln und die Werte der Zeit; sie etablieren „the play’s system of values“4, sodass sich das Publikum mit ihnen identifizieren kann und sich eine starke Relation zwischen ihm und ihnen herauskristallisiert. Ferner tragen sie in ihrer dramenästhetischen Funktion als Kontrastfigur zum komischen Helden auch zu einer den Dramentext strukturierenden Symmetrie bei. Sie kontrastieren mit ihrem Diskurs der Mäßigung mit den verrückten Machtinstanzen und schmälern deren Autorität, die im Zeichen der déraison steht. Ihre Rollengesinnung spiegelt Molières Ethik wider, die vom folgenden triadischen Werteideal bestimmt ist: la probité – die exzellente Moral –, le bon sens naturel – der exzellente Intellekt – und l’honnêteté – die exzellente Soziabilität.5 Die exzellente Moral impliziert ein an der bienséance orientiertes Verhalten, das in einer korrekten Erfüllung des gängigen mondänen Moralverständnisses liegt. Der exzellente Intellekt reflektiert das Urteil des Hofes wie auch der Stadt und erklärt das Bündnis dieser beiden Zuschauergruppen. Ferner legitimiert er den Erfolg Molières durch die Referenz auf die „esthétique galante“ 6, die im Zeichen des zeitgenössischen Ratio-Verständnisses steht. Der exzellenten Soziabilität werden häufig die Attribute überständisch, apolitisch, areligiös und unheroisch angehängt. Ihre Vertreter sollen sich ihres Standes bewusst, gesellig und allseitig gebildet sein, aber