Die Studie von Gärtig und Kollegen (2010) verdeutlicht zusätzlich zu einer ubiquitären Rangordnung unterschiedlicher Sprachen zwei weitere Punkte: Zum einen führt die große Befürwortung autochthoner Minderheitensprachen offenbar nicht dazu, dass auch deren Unterrichtung in der Schule gefordert wird. An dieser Stelle spielt sicherlich der Kommunikationswert dieser Sprachen abseits von ideellen Vorstellungen eine, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle. Zum anderen ist ein hohes Prestige einer Sprache wie Russisch im globalen Sprachsystem noch kein Garant für ihre Akzeptanz. Dass Sprachprestige sogar top-down installiert werden kann und gesellschaftliche Machtverhältnisse noch lange nach einer Änderung dieser unmittelbar reflektiert, wird in der Studie gerade am Russischen deutlich. So sprachen sich noch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung gut 40 % der Bevölkerung in den Bundesländern der ehemaligen DDR für Russisch als Fremdsprache in der Schule aus (vgl. ebd.: 251).
Eine von der deutschen Bevölkerung ausdrücklich verlangte Förderung erfahren die Sprachen von autochthonen, auf europäischem Territorium alteingesessenen Minderheiten offiziell in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRM, vgl. Europarat 1992). Ihr Ziel ist der Erhalt und der Schutz dieser Sprachen, was insbesondere das Recht auf ihre institutionelle Verankerung im Bildungswesen umfasst. Aber auch ihre Verwendung in den Bereichen Medien, Justiz, Kultur und Verwaltung soll gesetzlich gestärkt und garantiert werden. Von diesem Schutz profitiert in Deutschland beispielsweise die dänischsprachige Minderheit in Schleswig-Holstein. Hier bestehen neben einem sehr gut ausgebauten Netz an bilingualen Programmen in Bildungseinrichtungen aller Stufen und Zweige rein dänischsprachige Schulen, zahlreiche sprachlich-kulturelle Angebote und Lerngelegenheiten für alle Altersgruppen (vgl. Andresen 1997: 96; Boysen 2011: 13). Diese geradezu mustergültige Unterstützung des Dänischen trägt entscheidend zu seiner Stärkung, Anerkennung und zu seinem Erhalt bei, sodass heutige Schätzungen von bis zu 50.000 aktiven Dänischsprechern in Schleswig-Holstein ausgehen (vgl. ebd.).2
Für die anderen autochthonen Minderheitensprachen auf deutschem Territorium, also Sorbisch, Nord- und Saterfriesisch, Niederdeutsch sowie Romanes, stellt sich die Lage trotz eines ebenfalls durch die ECRM garantierten Schutzes gänzlich anders dar. Im Gegensatz zu ihnen verfügt das Dänische nicht nur über einen schriftsprachlichen Standard, sondern auch über den Status als Nationalsprache des benachbarten Königreichs Dänemark, was es zu einer zentralen Sprache macht, ihm einen größeren Wert auf dem „sprachlichen Markt“ zuschreibt und sein Prestige erhöht (vgl. Maas 2008: 67). Hierdurch wird die Tradierung der Sprache an nachfolgende Generationen vereinfacht, ihre Verwendung als Medium der Bildung und Unterrichtskommunikation gerechtfertigt und der Spracherhalt erleichtert. Obwohl beispielsweise Sorbisch genauso über einen schriftsprachlichen Ausbau und bilinguale Bildungsangebote verfügt, bedarf es eines starken sprachpolitischen Engagements der Sprecher, um den Verlust dieser peripheren Sprache auf lange Sicht aufzuhalten (vgl. Bundesministerium des Innern 2015: 48) – für sie gibt es keinen „Markt“. An dieser Stelle wird bereits deutlich, welche Position Sprachprestige für den Erhalt oder Verlust von Sprachen in Minderheitenkonstellationen einnimmt, selbst wenn diese offiziell anerkannt und per Gesetz geschützt und gefördert werden. Dies gilt umso mehr für allochthone Sprachen von zugewanderten Minderheiten, die von dieser Förderung explizit ausgeschlossen sind.
Die an etablierten großen Nationalsprachen ausgerichtete europäische Sprachpolitik spiegelt sich ebenso in dem Fremdsprachenangebot an deutschen Schulen wider. Nicht nur die flächendeckende Einführung des Englischen3 ab Klasse 1, auch die Teilnehmerzahlen an in der Schule angebotenen modernen Fremdsprachen belegen diese implizite Rangordnung unterschiedlicher Sprachen (s. Tabelle 1). So lernte beispielsweise in dem Schuljahr 2015 / 2016 die größte Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in Deutschland Englisch als Fremdsprache (87 %), mit weitem Abstand gefolgt von Französisch (18 %) und Spanisch (5 %). Der Anteil an erteiltem Unterricht in Russisch oder Türkisch, den größten allochthonen Sprachen in Deutschland, lag hingegen bei 1,3 % bzw. 0,6 %.
Fremdsprache | TN gesamt | TN Grundschule | TN Gymnasium |
Englisch | 7.221.431 | 1.725.656 | 2.264.245 |
86,6% | 23,9% | 31,4% | |
Französisch | 1.495.193 | 96.695 | 908.808 |
17,9% | 6,5% | 60,8% | |
Spanisch | 416.997 | 2.720 | 295.342 |
5,0% | 0,7% | 70,8% | |
Russisch | 111.185 | 2.267 | 51.208 |
1,3% | 2,0% | 46,1% | |
Türkisch | 50.862 | 28.823 | 2.827 |
0,6% | 56,7% | 5,6% |
Tab. 1:
Teilnehmer am Fremdsprachenunterricht im Schuljahr 2015 / 2016 im Vergleich (vgl. Statistisches Bundesamt 2017a)
Unter dem Aspekt der Schulformen betrachtet, lässt sich ebenfalls ein Ungleichgewicht zwischen den Sprachen erkennen. Während der Anstieg an Teilnehmern für die meisten angebotenen Fremdsprachen durch das Hinzukommen der zweiten und dritten Fremdsprache ab der Sekundarstufe I zu erklären ist, finden 56,7 % des Türkischunterrichts an Grundschulen4 statt – vermutlich im Rahmen des sog. herkunftssprachlichen Unterrichts. Sein Status als Ergänzungsunterricht ist grundsätzlich problematisch, da er im deutschen Bildungssystem nach wie vor nur eine marginale Rolle spielt (vgl. Gogolin & Oeter 2011: 40; Küppers & Schroeder 2017). Schwierigkeiten bei der Zertifizierung von erbrachten Leistungen, fehlende Lehrkräfte, ungeklärte Verantwortlichkeiten und Finanzierungsprobleme sowie die Voraussetzung einer bestimmten (sprachlichen, geographischen, ethnischen) Herkunft (vgl. Lengyel & Neumann 2016: 12) verhinderten bisher seine