Ein weiterer Aspekt, der für die hier vorgestellte Studie von zentraler Bedeutung ist, ist die Aufspaltung sprachlicher Fähigkeiten nach Registern (vgl. Biber 1995; Maas 2010). Register als Domänen sozialen Handelns bestimmen nicht nur die hierfür benötigten sprachlichen Mittel, sie entscheiden ferner über deren Adäquatheit und positionieren den Sprecher somit zusätzlich in einem gesetzten Kontext als ein kompetent agierendes Subjekt. Im Sinne sprachlichen Ausbaus ist der Erwerb literater, schriftsprachlicher Strukturen für ein angemessenes Handeln auch im formellen Register unabdingbar. Literate Strukturen können jedoch nur erworben werden, wenn diese von oraten Strukturen aus initialisiert werden können und wenn ihre Aneignung gleichzeitig durch die sozialen Gegebenheiten gefordert ist. Für die Mehrheitssprache stellen Bildungsinstitutionen solch eine soziale Gegebenheit dar. Hier werden die für eine gelungene Kommunikation erforderlichen sprachlichen Fertigkeiten im formellen Register von den Sprechern nicht nur abverlangt, sondern im Idealfall auch vermittelt. HL-Sprecher erhalten hingegen weitaus weniger Möglichkeiten, die literaten Strukturen ihrer HL zu erwerben und zu nutzen, da diese Sprache zumeist ausschließlich die Domäne der Familie einnimmt, die dem intimen Register zuzurechnen ist. Das formelle Register bleibt für sie häufig allein durch die Mehrheitssprache besetzt. Nur wenige Studien der Sprachtod-, Spracherhalt- und -revitalisierungsforschung thematisieren diesen Aspekt und berücksichtigen in ihren Modellen gleichermaßen Standardisierung, Normierung und Schriftsprachlichkeit als auf Gruppenebene relevante Faktoren für den Erhalt einer Sprache (vgl. Grenoble & Whaley 2006). In der HL-Forschung wird der Erwerb schriftsprachlicher Strukturen allem voran im Rahmen von herkunftssprachlichem Unterricht beforscht und stellt eine Hürde beim Erstellen geeigneter Testformate und -instrumente dar (vgl. Montrul 2008; Polinsky 2015a). Untersuchungen zu Bedingungen, die speziell den Erwerb literater Strukturen fördern, sind hier ebenso selten.
Während die Sozialpsychologie auf mehrere Jahrzehnte der Erforschung von Einstellungen und sozialer Identität zurückblicken kann (vgl. Fishbein & Ajzen 1977; Tajfel 1982) und für die Erhebung dieser Konzepte geeignete Instrumente zur Verfügung stellt, werden die Begriffe „Einstellung“ und „Identität“ in der Mehrsprachigkeitsforschung meist noch recht alltagsnah interpretiert. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Erkenntnissen der Sozialpsychologie oder eine daran angelehnte Erhebung von kultureller Identität und von Spracheinstellungen bilden die Ausnahme. Da diese Faktoren jedoch – wie Ergebnisse der Attritionsforschung es nahelegen – eine zentrale Rolle für den Erhalt der HL spielen können, ist ihre sorgsame Erhebung für die Erstellung eines theoretischen Einflussmodells für Spracherhalt von größter Bedeutung. Daher ist ein weiteres Ziel dieser Forschungsarbeit, in der Sozialpsychologie erarbeitete Instrumente zur Messung von Einstellung und kultureller Identität zu nutzen, um auf diese Weise das aufgestellte Modell zu externen Einflussgrößen auf den Erhalt der HL auch interdisziplinär stärker zu verorten.
1.2 Aufbau der Arbeit
Die Arbeit gliedert sich in sieben weitere Kapitel. Im zweiten Kapitel erfolgt eine einführende Auseinandersetzung mit Spracherhaltprozessen auf gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Ebene. Diskussionen um die Bedeutung von Sprachprestige für das Aufgeben von Sprachen in der Migrationssituation und auf Mehrsprachigkeit zurückgeführte Leistungsdisparitäten werden Argumenten für den Erhalt von Minderheitensprachen gegenübergestellt. Statistische Angaben zu Mehrsprachigkeit in Deutschland bilden den Ausgangspunkt für die Frage danach, welchen Forschungs- und Erkenntnisertrag die Beschäftigung mit HLs für die Mehrsprachigkeitsforschung bieten kann.
Es folgt im dritten Kapitel eine theoretische Erörterung der konzeptionellen Hintergründe des Begriffes „Heritage Language“ samt seiner kritischen Reflexion. Neben einer definitorischen Abgrenzung zu anderen damit verwandten Begriffen wird an dieser Stelle eine Typologie des HL-Sprechers unter Einbezug seiner Sprachbiographie aufgestellt. Zur Erklärung der Varianz in der Sprachkompetenz von HL-Sprechern werden Forschungserkenntnisse zu Attrition und unvollständigem Erwerb herangezogen. Daran schließt sich ein Überblick über nationale wie internationale Studien zu sprachstrukturellen Eigenschaften von unterschiedlichen HLs auf allen linguistischen Beschreibungsebenen an.
Den im Fokus dieser Arbeit stehenden außersprachlichen Faktoren und ihrem Einfluss auf den Erhalt der HL widmet sich das vierte Kapitel. Hierin erfolgt zunächst eine Zusammenfassung gruppenspezifischer außersprachlicher Merkmale, die auf der Ebene der sprachlichen Community den HL-Erhalt steuern können. Eine systematische Analyse des aktuellen Forschungsstandes zu individuellen externen Einflussfaktoren schließt sich daran an. Hierbei erfahren zuerst die Merkmale Spracherwerbstyp, sprachliche Konstellation innerhalb der Familie und Geschwisterrangfolge entsprechend den Erkenntnissen der Spracherwerbsforschung (vgl. De Houwer 2009) als sprachbiographische Faktoren eine ausführliche Betrachtung gefolgt von unterschiedlichen Sprachgebrauchskontexten. Diese werden nach zwei Gesichtspunkten unterteilt: Unter Berücksichtigung der Theorie des sprachlichen Modus nach Grosjean (2001) sowie des Registermodells nach Maas (2010) werden Forschungsergebnisse zu diversen Kontexten sowohl des bilingualen und monolingualen Sprachgebrauchs als auch der Sprachverwendung im intimen und formellen sprachlichen Register samt ihrem Einfluss auf den Erhalt der HL referiert. Darauffolgend werden die theoretischen Grundlagen der sozio-emotionalen Faktoren „Einstellung zur Mehrsprachigkeit“ (vgl. Agheyisi & Fishman 1970) und „kulturelle Identität“ (vgl. Phinney et al. 2001) mithilfe von Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie erläutert. Das Kapitel schließt mit Forschungsergebnissen, die den Einfluss dieser Merkmale auf den Spracherhalt in der Migration nachzeichnen.
Aufbauend auf den theoretisch bestimmten Eigenschaften der HL und ihrer Sprecher in Kapitel drei sowie auf den in Kapitel vier zusammengeführten Ergebnissen der Disziplinen Spracherwerbsforschung, Linguistik und Sozialpsychologie zu externen Faktoren wird im fünften Kapitel ein umfassendes Modell zu Spracherhalt von HLs konzipiert. Es berücksichtigt alle zuvor für relevant befundenen außersprachlichen Faktoren, die auf der Ebene des Individuums operieren, und lässt sich entsprechend den Merkmalsgruppen „sprachbiographische Faktoren“, „Kontexte des Sprachgebrauchs“ sowie „sozio-emotionale Faktoren“ in drei Teilmodelle unterteilen. Die in diesem Kapitel anhand des Modells formulierten Hypothesen bilden zugleich die Grundlage für die in den nachfolgenden Kapiteln beschriebene empirische Untersuchung.
In Kapitel sechs wird zunächst der quantitative Zugang zu den aufgestellten Forschungshypothesen mittels eines Fragebogens sowie die Wahl einer multiplen Regressionsanalyse als Methode begründet. Die Operationalisierung der in die Analyse aufgenommenen externen Faktoren wird ebenfalls an dieser Stelle ausführlich diskutiert. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf der Erfassung der Sprachkompetenz der Studienteilnehmer in ihrer HL anhand von einer eigens für die vorliegende Arbeit konstruierten Skala zur Selbsteinschätzung, da diese die abhängige Variable in dem Regressionsmodell darstellt. Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine Beschreibung der Stichprobenauswahl sowie der Untersuchungsdurchführung.
In Kapitel sieben werden die Ergebnisse der empirischen Studie detailliert vorgestellt. Das Kapitel beginnt mit einer eingehenden Beschreibung des Datensatzes, die sich auf die im Sample vertretenen HLs konzentriert. Hiernach werden die Skalenstatistiken zur Selbsteinschätzung der Sprachkompetenz sowie die deskriptiven Ergebnisse der einzelnen außersprachlichen Faktoren für die Stichprobe angeführt. Den Kern dieser Forschungsarbeit bildet die Auswertung der multiplen Regressionsanalyse. Diese wird sowohl für das Gesamtmodell der selbst eingeschätzten Sprachkompetenz in der HL als auch für einzelne, in sprachliche Register differenzierte Teilskalen dargestellt. Anschließend wird anhand der erzielten Ergebnisse überprüft, ob die zuvor aufgestellten Hypothesen zu bestätigen oder zu verwerfen sind. Den Schluss dieses Kapitels bildet ein Exkurs zu deskriptiven Analysen der türkischsprachigen Gruppe aufgrund ihrer zahlenmäßigen Gewichtung im Sample.
Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse dieser Forschungsstudie unter Rückbezug auf die theoretischen Prämissen in den ersten Kapiteln kritisch diskutiert. Neben den daraus gewonnenen Erkenntnissen werden ebenfalls